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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Gefängnisdirektor, der zum Todeskandidaten sagt: «Komm, Junge, es ist so weit.»
    Tibo warf Agathe einen nervösen Blick zu, aber sie scheuchte ihn mit einer Geste in die Kabine.
    Die Ringe klapperten wieder über die Stange, und Tibo fand sich allein in der kleinen Holzkiste wieder. Über ihm hing eine trübe Mattglaslampe, links war ein Spiegel an die Wand geschraubt, rechts hingen zwei Kleiderhaken Seite an Seite, und in die Ecke hatte man einen winzigen, braunen Biegeholzstuhl gequetscht. Tibo setzte sich und löste seine Schnürsenkel, stand auf und streifte sich mit den Füßen die Schuhe ab. Er zog seine Jacke aus und hängte sie an einen der Haken, öffnete seine Hose, zog sie aus und legte sie ordenlich zusammen, wobei er sie sich unters Kinn klemmte, dann legte er sie über der Stuhllehne ab, von wo sie mit einem Seufzer auf den Boden rutschte und in sich zusammenfiel. Tibo hob die Hose auf und legte sie über den Sitz. Diesmal blieb sie liegen.
    Er warf einen finsteren Blick in den Spiegel. Schwarze Socken, weiße Beine, abstehende Hemdschöße. «Ich seheaus wie ein Truthahn», flüsterte er und blies die Backen auf. Er fragte sich, warum eine Frau, geschweige denn die rosige, dralle, nach Tahiti duftende Agathe Stopak, ihn jemals würde haben wollen. «Aber normalerweise fängt man nicht bei der Hose an», beruhigte er sich, «man beginnt ganz oben und arbeitet sich nach unten.» Blieben noch die Socken. Tibo stellte sich vor, wie er nackt bis auf die Socken aussähe, und er stöhnte: «Oh, Walpurnia!»
    «Alles in Ordnung da drinnen?», fragte Kemenazic.
    Der Vorhang zuckte verdächtig, und panisch griff Tibo in den Stoff, um ihn festzuhalten. «Alles prima», bellte er, «vielen Dank. Einen Augenblick noch.» Vorsichtig ließ er den Vorhang wieder los. Der Stoff machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
    Nach einem Moment des misstrauischen Abwartens zerrte Tibo eine Hose von dem ersten der Kleiderbügel, die Herr Kemenazic ihm gegeben hatte. Bequemer, blauer Stoff, der bis an die Knie gefüttert war, tiefe Taschen, verstellbarer Bund mit schwarzen, seitlich angebrachten Knöpfen. Das war eine Hose! Und sie saß! Tibo stieg wieder in seine Schuhe. Sie saß wie angegossen! Tibo war noch dabei, sich im Spiegel zu bewundern, als – tsching! – der Vorhang beiseiteflog. Da stand Herr Kemenazic, eine weißknöchelige Faust an das Maßband geklammert, das ihm um den Hals hing. «Alles in Ordnung, Herr Bürgermeister? Wenn ich einmal sehen dürfte.»
    Mit einer weiteren Magiergeste wirbelte Kemenazic das Jackett vom Kleiderbügel und zauberte es mit geschickten Handgriffen an Tibos Oberkörper. «Einreihig, Herr Bürgermeister. Sehr vorteilhaft. Vierfach geknöpfte Manschetten. Mittlerer Rückenschlitz. Sehr modern.»
    «Ich dachte   …», sagte Tibo.
    «Sehr vernünftig von Ihnen, ich pflichte Ihnen bei. Die Zweireiher eignen sich in der Tat eher für den schlanken Herrn.»
    Kemenazic steckte zwei Finger in Tibos Hosenbund und umfuhr dessen Taille. «Passt ausgezeichnet, nicht zu eng.» Dann riss er mit überwältigender Kraft an der Rücknaht. «Genug Platz im Gesäßbereich, nicht wahr? Wir legen besonderen Wert auf großzügige Schnitte.»
    «Vielen Dank», keuchte Tibo, «etwas Ähnliches hatte ich eben auch gedacht.»
    «Ich bin ja so überaus glücklich, das zu hören, Herr Bürgermeister. Wollen wir der geschätzten Frau Krovic das Ergebnis unserer Bemühungen zeigen?» Und in einer fließenden Walzerbewegung drehte Kemenazic Tibo durch den Vorhang und hinaus in den Laden.
    Agathe stand auf und begrüßte ihn mit einem Lächeln. «Oh, ja», sagte sie, «ja, ja. Tja, dann komm mal her und lass mich sehen!» In ihrer Stimme schwangen Aufregung und Stolz mit, sie war mehr als bloß freundlich. Sie sprach in einem Tonfall, der sonst nur Ehefrauen vorbehalten ist. Tibo bemerkte es und fragte sich, ob ihm das gefiel; und ja, es gefiel ihm. Er war der Meinung, dass ihr das zustand.
    Sie sprach in dem Tonfall, in dem die Richtige mit ihm gesprochen hätte, wäre sie jemals in sein Leben getreten; und jetzt, da er Agathe so sprechen hörte, wurde Tibo klar, dass sie tatsächlich in sein Leben getreten war. Er hatte sie gefunden. Agathe war die Richtige.
    Jahrelang war sie zum Greifen nahe gewesen, aber erst hier, bei Kupfer & Kemenazic, zwischen den Schubladen mit «Socken blau» und «Socken schwarz» und den verglasten Schränken voller Unterwäsche und Nachthemden, hier, wo die Ständermit grellen

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