Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
wie ein Kind auf einer Schaukel. «Komm», rief sie, «komm! Hilf mir!»
    Also wagte Tibo einen weiten Satz, landete gegenüber von Agathe auf der Glocke und klammerte sich fest, die Beine in ihre Beine verschränkt. Sie schaukelten und schaukelten, jedes Mal, wenn sie sich vorbeugte, lehnte er sich zurück, und wenn er sich vorbeugte, lehnte sie sich zurück, und dabei lachten sie und feuerten sich gegenseitig an. «Ja, ja, genau so! So ist es gut! Ja!» Und als Tibo den Blick nach unten richtete, vorbei an Agathes milchweißen Schenkeln in den Glockenturm hinein, und den Boden als winziges, geschrumpftes Rechteck am Ende eines langen Tunnels wahrnahm, hörte er sie sagen: «Das ist doch deine Haltestelle, oder?» Tibo schrie, aber niemand konnte ihn hören, denn im selben Moment schwang die Glocke zurück und ließ ein grauenvolles «BONG!» ertönen.

 
    NUN IST allgemein bekannt und wissenschaftlich belegt, dass Träume, von denen wir glauben, sie hätten die ganze Nacht gedauert, in Wahrheit nicht länger dauern als eine oder zwei Sekunden. Wir fliegen stundenlang durch Wolken oder stehen den ganzen Tag splitternackt auf einer Haupteinkaufsstraße herum, oder wir werden über viele Kilometer von einem Geistertaxi verfolgt, bis wir erschöpft nach Atem ringen. Aber in der seltsamen Welt diesseits des Schlafes ist das alles nach einem Lidzucken vorbei.
    Dass Tibo, in die Laken verheddert und ans Kopfkissen geklammert, von seinen eigenen Schreien geweckt wurde, war wohl dem sonntäglichen Glockenspiel zuzuschreiben, das immer noch über Dot hinweg und bis in Tibos Schlafzimmer schallte.
    Tibo war kein Kirchgänger. Er genoss es jedes Jahr aufs Neue, den Stadtrat bei der traditionellen Prozession den Hügel hinauf in die Kathedrale zu führen. Auch stieß er, wie alle guten Leute in Dot es seit ihrer Kindheit tun, in Momenten der Verzweiflung Walpurnias Namen aus. Manchmal hob er bei der Arbeit sogar den Kopf und sprach die bärtige Nonne auf dem Stadtwappen an wie eine gute, alte Freundin. Er betrachtete das Gebet als eine Gelegenheit, sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen, aber er glaubte eigentlich nicht, dass ihm irgendwer zuhörte. Wenn er ein Gebet sprach, meinte er jedes Wort ernst. Die Gebete erschütterten seinHerz, wie ein Schneebrett den Boden erschüttert, wenn es bei Tauwetter vom Dach rutscht, aber nach einer Weile ist der Schnee geschmolzen. Wenn Tibo betete, war ihm klar, dass er mit sich selbst sprach, nicht mit mir und schon gar nicht zu Gott, und folglich war ihm auch klar, dass es sich strenggenommen nicht um beten handelte. Und da er Selbstgespräche in seiner Küche ebenso gut führen konnte wie in der Kirche, ging er gar nicht erst hin.
    An jenem Morgen brachen Männer, die viel schlimmer als Bürgermeister Tibo Krovic waren, zum Gottesdienst auf, vielleicht, weil sie es nötig hatten. Was Tibo nötig hatte, war Kaffee, und weil er nicht zur Kirche ging, hatte er Zeit, sich welchen zu kochen. Auf dem Weg in die Küche nahm er einen Umweg durchs Badezimmer. Sein Körper schmerzte, als hätte er auf einer Matratze mit Steinfüllung geschlafen. Er war müde und erschöpft, außerdem bekümmerten ihn die seltsamen, peinlichen Traumfetzen, die in seinem Hirn festsaßen wie Zigarettenqualm in einer Gardine. Tibo stöhnte und schüttelte den Kopf, um sie loszuwerden, aber es funktionierte nicht.
    Das Bild von Agathes Strumpfsäumen und ihren weißen Schenkeln sowie das tiefe, ziehende Schaukelgefühl blieben ihm auf seltsame Weise erhalten, so, wie ihm das Schwanken der Fähre nach Dash noch in den Beinen steckte, wenn er längst auf dem Kai angekommen war. Nur, dass es diesmal nicht um seine Beine ging.
    In der Küche schaufelte Tibo viele Messlöffel Kaffee in die Kanne, setzte Wasser auf und eilte zur Haustür, um die Sonntagszeitung zu holen. Nichts stand darin. Die übliche Titelgeschichte, sie war dieselbe wie jede Woche und drehte sich um dunkle Mutmaßungen, die Provinzregierung könnte bei derKorruptionsbekämpfung versagt haben oder auch nicht, zumindest ergebe sich, vielleicht, der ernste Verdacht der Vetternwirtschaft. Darum ging es, und um eine Nebendarstellerin aus dem letzten Horace-Dukas-Film, die mit ihrem Chauffeur in irgendeinen Skandal verwickelt war. Außerdem brachte die Zeitung ein Bild von einer besonders absonderlich geformten Tomate, die in einem Gemüsegarten in der Nähe von Umlaut entdeckt worden war. «Ich sage es ja», murmelte Tibo. «Umlaut, Heimat der

Weitere Kostenlose Bücher