Die Liebeslotterie
deformierten Tomaten.» Er warf die Zeitung auf den Tisch und machte sich daran, Toast zu rösten.
Den restlichen Vormittag verbrachte er so, wie man es sich für einen wohlhabenden, allein lebenden Mann vorstellt, der zu viel Zeit zum Nichtstun hat. Er aß in aller Ruhe. Nachdem er die Zeitung sorgfältig gegen eine grüne, eckige Marmeladendose gelehnt und aufmerksam Seite für Seite studiert hatte, entdeckte er, dass tatsächlich nichts Lesenswertes darin stand. Er spülte das Geschirr und ließ es an der Luft trocknen. Er wusch sich. Er rasierte sich. Er ging wieder ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen, hielt sich den Ärmel des neuen schwarzen Anzugs an die Wange und versuchte, den typischen Duft neuer Anzüge zu erschnuppern. Vielleicht wollte er auch nur sichergehen, dass der Anzug nicht nach dem Schweiß einer Hetzjagd durch die nächtlichen Straßen von Dot roch, bevor er ihn anzog.
Tibo schlüpfte in seinen Mantel und entdeckte in einer Tasche das zusammengeschnürte Paket aus braunem Packpapier, das er am Vorabend eingesteckt hatte. Agathes Buch. Er hatte es ihr am Montag überreichen wollen, und er überlegte sich, dass er, steckte er es jetzt schon ein, damit rechnete, Agathe heute zu begegnen, am Sonntag, um ein Uhr an der Konzertmuschelim Kopernikuspark, was natürlich Unsinn war. Tibo zog das Päckchen aus der Tasche und legte es auf den Garderobentisch. Die Haustür fiel mit einem Rums hinter ihm zu, die Briefkastenklappe aus Messing ratterte, und Tibos Absätze knallten über den blaugekachelten Gartenpfad wie Gewehrfeuer. Er ging unter der tropfnassen Birke durch, öffnete das knarrende, schiefhängende Gartentor und betrat die Straße. Aber diesmal ging er nicht bergauf, sondern bergab, auf den Park zu.
Es war schon nach zwölf, und die Sonne lugte hinter den unentschlossenen Wolken hervor wie eine verwischte Zitrone. Vom Ampersand her blies ein Ostwind, der endlose Kilometer über die Steppe und dann noch ein paar zusätzliche Kilometer über das Meer zurückgelegt hatte, das sich immer noch nicht entschließen konnte, zu überfrieren. Trotzdem schien halb Dot auf dem Weg in den Park zu sein, die nettere Hälfte von Dot, jene Hälfte, die Tibo mit Stolz repräsentierte, die Hälfte mit gesunder Gesichtsfarbe und wohlerzogenen, sauberen Kindern mit Strickmützen und geputzten Schuhen, jene Hälfte, die Tibo beneidete und die lächelnd und nickend und winkend zu ihm aufsah und aus ihrer gemütlichen Spießigkeit heraus grüßte: «Bürgermeister Krovic!»
Auch auf den Park mit seinen breiten, steinernen Eingangsbögen war Tibo stolz, auf die geschnörkelten, schmiedeeisernen Handläufe und die weite, sanft abfallende Rasenfläche, die unterhalb einer Allee in eine flache Senke mündete, wo eine massive, reichverzierte Konzertmuschel mit einem glockenförmigen Dach aus echtem Schiefer stand.
Tibo näherte sich durch die tiefliegenden italienischen Gärten, alljährliches Glanzstück des Gartenbauamtes, das die Geographie und den gesunden Menschenverstand jedes Jahraufs Neue widerlegte, indem es mitten in Dot ein Stückchen Toskana oder Umbrien aufleben ließ – ein warmes, trockenes Fleckchen Erde, das nach Basilikum duftete, eine echte Köstlichkeit für Rentiere, würden sie sich nur bequemen, ein bisschen weiter nach Osten zu laufen. Da geht Tibo schon zwischen den hohen, schlanken Zypressensäulen hindurch, ein bisschen unsicher in dem neuen Anzug; er fragt sich, ob er richtig gehe, ob er gestern schon genauso gegangen ist, ob er nicht besser einen anderen Gang versuchen sollte, der dem Bürgermeisteramt ebenso Rechnung trägt wie dem neuen Anzug von Kupfer & Kemenazic. Sein Gang bringt ihn aus nördlicher Richtung der Konzertmuschel entgegen, jenem seltsamen, achteckigen Gebilde mit den vielen rot-, blau- und weißgestrichenen, manchmal sogar vergoldeten schmiedeeisernen Zierelementen, die wie Zuckerguss an einer Riesentorte wirken. Nun sieht er sich nach einem geeigneten Sitzplatz um.
Die Konzerte der Feuerwehrkapelle sind immer sehr beliebt, und das letzte des Jahres zelebrieren die Einwohner von Dot wie eine Gala. Der richtige Ort für neue Hüte, der Ort fürs Sehen und Gesehenwerden. Ganz gewiss stünde Bürgermeister Krovic ein Platz in der ersten Reihe direkt vor der Bühne zu, andererseits könnte das ein wenig prahlerisch wirken. Ein Sitz ganz hinten hingegen wäre zu bescheiden. Man könnte eine solche Platzwahl sogar als angeberisch verstehen, als Prahlerei im Gewand von
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