Die Liebeslotterie
hob, bemerkte Tibo weit hinter der Menschenmenge das Taxi, das mit schnurrendem Motor am Parkeingang wartete.
«Wie es aussieht, ist die ganze Stadt hier», sagte Yemko. «Und gleich geht’s los. Bitte, wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Aus irgendeinem Grund habe ich eine ganze Reihe für mich allein.»
Tibo und Agathe sahen einander resignierend an. Neben Yemko zu sitzen wäre immerhin weniger peinlich, als eine geschlagene Stunde lang im Stehen vor dem Publikum auszuharren, außerdem wären sie wenigstens zusammen. Und so kam es, dass Agathe den Anwalt Guillaume zwar immer noch hasste, weil er Tibo aus dem Gerichtssaal hatte verbannen lassen, aber gleichzeitig war sie dankbar. Sie sagte nur: «Danke», setzte sich ans Ende der Reihe und überließ es Tibo, sich auf den letzten freien Platz zu zwängen – den Platz neben Yemko Guillaume.
Bevor er sich setzte, tat Tibo noch seine Pflicht. «Herr Guillaume», sagte er, «darf ich Ihnen meine Freundin und Kollegin Agathe Stopak vorstellen. Agathe, dies ist der gebildete Herr Guillaume.»
In einer galanten Geste, die ihm offensichtlich Schmerzen bereitete, lehnte Yemko sich auf seinem Gehstock nach vorn, erhob sich halb und verbeugte sich halb und streckte eineHand aus, die Agathe höflich mit spitzen Fingern schüttelte. «Guten Tag, Frau Stopak. Es ist mir ein Vergnügen.»
«Guten Tag», antwortete Agathe.
Tibo setzte sich zwischen sie.
Flink wie ein Flamencotänzer schüttelte Yemko eine dicke, weiße Visitenkarte aus dem Ärmel. «Lieber Krovic, vielleicht hätte Frau Stopak gern eine davon?»
Tibo gab die Karte an Agathe weiter, die sich zum Dank mit einem knappen Lächeln vorbeugte. Ihre Höflichkeit war mustergültig.
«Die Auswahl ist eher enttäuschend», fuhr Yemko fort, «der Schwerpunkt liegt auf Marschmusik – zu viel Um-pah-pah. Tja, sei’s drum.»
«Sei’s drum?» Tibo klang viel gereizter, als er beabsichtigt hatte.
«Sei’s drum. Die Leute sollen kriegen, wonach es sie verlangt. Ich glaube, wir hatten das Thema schon. Die Leute wollen wissen, woran sie sind. Sie sehen es nicht gern, wenn ein Laienprediger in seiner Freizeit Tango tanzt. Sie bevorzugen einen Bürgermeister, der immer schön engstirnig bleibt. Sie wären enttäuscht, nein, bestürzt, wenn sich ihr absurd fetter Anwalt als irgendetwas anderes herausstellen sollte denn als Vielfraß. Und sie wären geradezu verbittert, sollte die Feuerwehrkapelle es wagen, ein bisschen Mozart zu spielen. Und es gibt nichts Schlimmeres als einen enttäuschten Mob. Nichts ist hässlicher.» Guillaume drehte den Kopf zur Seite, um Tibo ins Gesicht zu sehen. «Und ich sage das als jemand, der sich mit Hässlichkeit auskennt.»
Plötzlich war der gute Bürgermeister Krovic tief bewegt. Er schlug mit einer Hand auf den Stoff, der sich über den Oberschenkel des Anwalts spannte. «Guillaume», sagte er in seinem«Ach, kommen Sie, was ist denn los»- Tonfall. Aber dann schien er plötzlich die ganze Bedeutung von Yemkos Worten verstanden zu haben und setzte zu einer Verteidigung an. «Sie wissen selbst, dass ich als Bürgermeister so engstirnig bin, wie man es sich nur wünschen kann», sagte er.
Yemko sah ihm direkt in die Augen und sagte nur: «Na ja.»
Tibo sollte nie erfahren, was Yemko damit meinte. Die Musik setzte ein.
Und wie sich herausstellte, sollte Yemko recht behalten. Das Programm war öde. Keine Raffinesse, kein Gefühl, bloß hämmernde, plärrende Blasmusik – kriegstreiberischer, mitteleuropäischer Nonsens. Unter dem Deckmantel der Musik, als sie davon ausgehen konnte, dass alle in ihrem Rücken zur Kapelle hinaufstarrten, etwa in der Mitte des zweiten Stücks – auf dem Programmzettel angekündigt als «Meine fesche, Pommer’sche Magd» –, schob Agathe ihre Hand hinüber. Es war eine Einladung, und Tibo nahm an. Er ließ seine Hand auf ihre zusammengedrückten Oberschenkel sinken und schob seine Finger zwischen Agathes. «Ich habe Bonbons mitgebracht», sagte sie und bot ihm mit der freien Hand eines an. Tibo griff mit der Linken zu und steckte sich das gezwirbelte Bonbonpapier zwischen die Zähne, um es zu öffnen.
«Zu einem schönen Stückchen Karamell sage ich nicht nein», sagte Tibo. «Sind da Nüsse drin?»
«Nein. Fragen Sie ihn, ob er auch eins will.»
«Möchten Sie ein Bonbon?», flüsterte Tibo.
«Nein, danke.» Abwehrend hob Guillaume eine rosa Hand.
«Was für ein Miesepeter», flüsterte Agathe.
Tibo drückte ihre Hand. «Psst. Du kennst ihn
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