Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Liebesluege

Titel: Die Liebesluege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sissi Flegel
Vom Netzwerk:
als geplant. Sie kam nicht dahinter; das Einzige, was sie ganz sicher wusste, war, dass die schwefelgelbe Farbe nicht mehr zu ihm passte.
    Welche Farben denn dann?
    Sie grübelte über die Frage nach. Plötzlich sprang sie aus dem Bett, zog sich in Windeseile an und rannte in die Halle. Hoffentlich kam sie aus dem Haus!
    Die Tür stand auf, denn Herr Appenzell machte sich schon im Hof zu schaffen. »Könnten Sie mir bitte die Halle und den Werkraum aufschließen?«, bat sie ihn atemlos. »Bitte! Ich muss unbedingt etwas fertigstellen!«
    Grummelnd tat ihr Herr Appenzell den Gefallen.
    Sie öffnete das Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen fielen herein, als sie das Vogelwesen vom Brett und auf den Tisch stellte. Kritisch und distanziert, so, als habe eine Fremde es geschaffen, betrachtete sie es. Ihr Blick schärfte sich, sie legte den Kopf schief, kniff die Augen zusammen, ging um den Tisch herum und staunte über den weit
aufgerissenen Mund, dem man ansah, dass er zu beidem fähig war: zu ausgelassenem Lachen und wilden, wütenden Schreien.
    Der Vogelleib war prall, der Schwanz schwang schwungvoll und elegant gebogen nach hinten, die Beine waren leicht gebeugt und erweckten zusammen mit den kraftvoll aufgerichteten Flügeln den Eindruck, als habe sich das Vogelwesen soeben von allen Fesseln befreit und schwinge sich im nächsten Augenblick voll überschäumender Lebenslust in die Lüfte.
    Bin ich das?, fragte sich Elena. Hatte sie ihre Fesseln abgestreift - oder spiegelten sich nur ihre Wünsche in der Gestalt?
    Aber, wieder nagte sie an ihrem Fingerknöchel, aber wenn sie ihre Wünsche ausdrücken konnte, konnte sie auch so leben, dass sie sich erfüllten, dachte sie plötzlich und stellte die Farbtöpfe auf den Tisch.
    Sie schlüpfte in den alten Kittel, suchte die Pinsel zusammen und trug die Farben auf - smaragdgrün und kobaltblau für den Leib, ein klares Rot, ein kräftiges Orange, leuchtendes, strahlendes Gelb für den Schwanz und die Federn.
    Sie legte alle Enttäuschungen, alle zunichtegemachten Hoffnungen in die Farben - aber auch alle Perspektiven und ihre neugewonnene Kraft flossen ins Vogelwesen. Sie vergaß alles um sich herum, hatte weder Hunger noch Durst und schrak zusammen, als jemand an die abgeschlossene Tür klopfte: Sie stand ja im Werkraum und befand sich nicht auf ihrem eigenen weltentrückten Stern!
    Ernüchtert legte sie den Pinsel beiseite und schloss mit unwillig gerunzelten Brauen die Tür auf.
    »Herr Crupinski!«
    »Darf ich hereinkommen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten,
ging er zum Tisch. Er kreuzte die Arme vor der Brust, betrachtete schweigend und von allen Seiten Elenas Werk und zog schließlich einen Hocker heran. Er setzte sich und schlug die Beine übereinander.
    Elenas Herz klopfte; nervös wischte sie die feuchten Hände am Kittel ab. Gefiel ihm der Vogel nicht? Fand er etwa die Farben zu grell?
    »Bist du zufrieden?«
    Elena zuckte zusammen. Alles hatte sie erwartet, seine Kritik oder, besser noch, sein Lob. Aber nicht diese Frage! »Ich? Wieso ich? Sie müssen doch zufrieden sein, Herr Crupinski!««
    »Unsinn! Der Künstler ist für sein Werk verantwortlich. Bist du zufrieden, Elena? Antworte mir.«
    »Ich weiß nicht, weshalb es anders geworden ist als geplant«, entgegnete sie unsicher.
    »Bist du zufrieden?«, wiederholte er hartnäckig.
    »Vielleicht hätte ich den Leib etwas schmaler und die Flügel -«
    Ungeduldig hob Crupinski die Hand. »Lass mich die Frage anders formulieren: Stehst du zu deinem Werk?«
    »O ja!«, rief Elena.
    Er lächelte sie an. »Du hast die Dinge sichtbar gemacht, die in dir sind. Du kannst mehr, viel mehr, als du denkst. Dein Werk ist dir gelungen. Ich gratuliere dir.« Er schlurfte zum Regal, kramte zwischen den Büchsen herum und kam mit einer sehr kleinen zurück. »Es könnte noch etwas Glanz vertragen.«
    Elena nahm die Büchse in die Hand. »Gold?«, erkundigte sie sich ungläubig. »Ich soll es vergolden?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur, es kann ein
paar goldene Tupfer vertragen. Aber denk daran: Weniger ist mehr.«
    Als er gegangen war, sank Elena auf den Hocker, auf dem Crupinski gerade noch gesessen war. Überglücklich starrte sie auf ihr Vogelwesen. Ich hab’s geschafft, es ist mir gelungen, jubelte sie. Das muss ich Max erzählen!
    Elena hatte keinen Hunger, und von ihrem Werk konnte sie sich auch nicht trennen. Vorsichtig tupfte sie etwas Gold auf die Flügelspitzen. Nicht schlecht, dachte sie und fügte noch ein

Weitere Kostenlose Bücher