Die Liebesluege
Zwiespalt zwischen der Spannung, die Arbeit weiterzuführen, und der Freude auf Max normal war. Ihre Eltern würden ihr garantiert erklären, man könne nur eines wollen: entweder arbeiten
oder mit dem Freund zusammen sein. Aber das stimmte nicht; sie war in Max verliebt und genoss jede Sekunde mit ihm, doch das Vogelwesen war ihr genauso wichtig. Sie stellte die Schale zum Trocknen ins Waschbecken und wusch die Hände. Es war mörderisch, immer warten zu müssen, bis eine Lage Papier angezogen hatte und sie die nächste auflegen konnte. Wie hieß es? Der Weg ist das Ziel - was für ein Blödsinn! Klar, der Weg, der Vorgang des Klebens, war spannend, war eine Herausforderung. Aber das Ziel war doch die Frage: Würde das fertige Stück so aussehen, wie sie es sich vorstellte?
Elena nagte an ihrem Zeigefingerknöchel, schloss die Tür hinter sich ab und eilte in die Teeküche, weil sie dachte, sie sei viel zu spät dran.
Zu ihrem Erstaunen saßen nur Professor Mori und Frau Rode am Tisch. Sie ärgerte sich, dass sich die Jungs und Anni verspätet hatten - hätte sie das gewusst, hätte sie noch mindestens eine Lage Papier anbringen können! Sie waren schon beim Nachtisch, einem Stück Erdbeerkuchen mit Sahne, als die anderen erschienen.
»Es ist viel mehr zu tun, als wir dachten«, entschuldigte sich Max. »Wir müssen ein Brett auswechseln, der Motor muss überholt werden, vieles muss angestrichen werden, aber zuvor muss die alte Farbe ab -«
»Keine Ahnung, wie wir das bis Ferienende schaffen sollen«, meinte Franco düster.
»Was sagt denn Herr Appenzell über die Arbeit?«, erkundigte sich Professor Mori.
»Er hat den ganzen Tag Zeit«, erklärte Anni sofort. »Er sagt, wir könnten ja ein paar belegte Brote mitbringen, dann könnten wir bis fünf durcharbeiten. Aber er weiß nicht, ob Sie das erlauben, Frau Professor Mori.«
»Wollt ihr das denn?«
Arno, Franco und Anni nickten. »Klar wollen wir das.« Max sagte nichts; er löffelte die Suppe und sah nicht auf.
Elena legte die Kuchengabel auf den Teller. »Ich weiß auch nicht, wie ich mein Vogelwesen in den paar Vormittagsstunden schaffen kann.«
Frau Rode runzelte die Stirn. »Wo ist das Problem? Warum arbeitet ihr in dieser Woche nicht bis fünf Uhr? Bis Ostern seht ihr ja, wie weit ihr gekommen seid, und könnt dann entscheiden, wie ihr’s in der zweiten Woche halten wollt.«
Max hob den Kopf. »Bist du einverstanden?«, fragten er und Elena gleichzeitig, worauf alle in Lachen ausbrachen.
Immer enttäuschter checkte Elena mehrmals täglich ihr Handy, doch ihre Schwester meldete sich einfach nicht.
Wäre sie nicht mit ihrem Vogelwesen beschäftigt und nicht so sehr in Max verliebt gewesen und durch seine Küsse geradezu aufgeblüht, hätte sie die ausbleibende Antwort in tiefe Verzweiflung gestürzt. So übte sie sich in Geduld, genoss die Stunden mit Max und widmete sich jeden Tag voll Begeisterung ihrer selbst gewählten Arbeit im Werkraum.
Das Vogelwesen nahm nach und nach Gestalt an. Ursprünglich, so hatte sie es ja auch Professor Mori und Carl Crupinski gesagt, hatte sie einen wilden, rachsüchtigen, schwefelgelben Vogel mit einem hasserfüllten Menschengesicht schaffen wollen. Aber als sie am Freitagabend ihr Werk begutachtete, war es, ohne dass sie es bewusst beabsichtigt hätte, anders gekommen.
Nachdenklich stellte sie den Vogel zum Trocknen ins Regal, schichtete das übrig gebliebene Papier ordentlich
aufeinander und wusch die Schüssel mit dem angerührten Kleister aus. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Regal; sie fragte sich, ob sie Crupinski anrufen und um Rat bitten, oder ob sie bis nach Ostern warten solle, in der Hoffnung, dann zu wissen, ob sie mit ihrem Werk zufrieden wäre oder es doch lieber enttäuscht in den Ofen werfen sollte. Seltsamerweise, gestand sie sich ein, war sie nicht enttäuscht. Sie war eher zufrieden und, so merkwürdig es auch klingen mochte, sehr entspannt. In Gedanken malte sie sich schon aus, welche Farben sie für die Flügel, für den Leib, vor allem aber für den Kopf mit dem aufgerissenen Mund wählen würde …
Kapitel 22
Ostersamstag, 30. März
Als Elena aufwachte, fing es gerade an zu dämmern. Noch füllte graublaues Zwielicht ihr Zimmer, und durch die geöffneten Fenster drang das Jubilieren, Singen und Zwitschern der Vögel. Um nichts in der Welt konnte sie wieder einschlafen: Das Vogelwesen spukte ihr im Kopf herum. Zuerst versuchte sie zu ergründen, weshalb es so anders geworden war
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