Die Liebesluege
Hauptprobe alle Einsätze, und Crupinski stellte wutschnaubend fest, dass die Halle, obwohl er es Herrn Appenzell ausdrücklich befohlen hatte, nicht abgeschlossen war.
Am Sonntagmorgen zeigte sich am blauen Frühlingshimmel keine einzige Wolke. Die Sonne strahlte, die weißen Berggipfel glänzten, die Wellen des Sees glitzerten, das frische Grün, die Blüten und Blumen leuchteten, sodass sich Villa Rosa von seiner allerbesten Seite präsentieren konnte.
Auf dem Rasen standen Tische und Stühle unter alten Kiefern und aufgespannten Sonnenschirmen. Die Jungs trugen Hosen aus feinem Tuch, weiße Hemden und ihre weinroten Pullis, und natürlich waren die Mädchen nicht weniger schick: Zum Rosianer-Pulli und der weißen Bluse hatten sie je nach Figur und Vorliebe einen kurzen oder langen Rock, eine enge oder weitere Hose oder Leggings mit einem Mini gewählt.
Swetlana erschien in ihrem langen, hochgeschlitzten Rock, Valerie trug trotz der Wärme ihre todschicken Overknees. Leider stachen Elena und Charly aus der Menge heraus, denn noch hatten sie den Hauspulli nicht verliehen bekommen; Professor Mori schien die Angelegenheit nicht wichtig zu sein.
»Ich finde das wirklich unverständlich«, hatte Charly am Morgen geschimpft. »Mein Gott noch mal, es wäre doch wirklich kein Akt gewesen, uns die Pullis in die Hand zu drücken; wir sehen ja aus, als gehörten wir nicht hierher!«
Vor sich hingrummelnd hatte sie einen blauen Rock mit grünem Gürtel und eine grün-weiß getupfte Bluse angezogen. Ihre rotblonden Locken fielen ihr über die Schultern, sie hatte die Augen sorgfältig geschminkt und schlüpfte gerade in blaue Ballerinas. »Lass dich sehen, Elena!«
Sie runzelte die Stirn. »Warum so klassisch-langweilig? Du bist die Künstlerin, du musst dich anders kleiden!«
Sie nervte Elena so lange, bis diese Bluse und Blazer gegen eine Röhrenjeans zu schwarzen High Heels und einer weißen Tunika mit schwarzer Spitze tauschte.
»Jetzt reibst du noch etwas Brillantine in dein Haar, und du bist die Schönste von allen«, meinte sie anerkennend. »Deine Augen strahlen, und überhaupt: Du hast dich wahnsinnig verändert!« Charly erinnerte sich an ihren ersten
Eindruck. »Damals hast du so missmutig ausgesehen, so niedergedrückt und unzufrieden. Mit einem Wort …« Nach dem richtigen Wort suchend runzelte sie die Stirn.
»So negativ?«, half Elena aus.
»Absolut negativ«, stimmte sie ihr zu. »Muffig. Ohne Selbstbewusstsein. Und … und so, als würde dir übel, wenn du dich im Spiegel siehst. Sorry, ich will dich nicht kränken.«
»Mich kränken? Du ahnst nicht, wie recht du hast«, entgegnete Elena grimmig. »Ich habe mich gehasst.«
»Genau das hat man dir angesehen«, bestätigte Charly. »Du hast immer betont, du seiest das Aschenputtel. Jetzt sehe ich neben dir wie Aschenputtel aus!« Sie schubste Elena, sodass sie zu zweit in den Spiegel schauen konnten.
»Deine Haare möchte ich haben!«, rief Elena. »Charly, im Märchen hat sich Aschenputtel den Prinz geangelt. Bei deinen Haaren und deiner Figur -«
»NEIN.« Das kam so hart, so entschieden, dass Elena sie erschreckt ansah und verstummte.
Charly räusperte sich. »Komm jetzt. Das Frühstück wartet.«
Sie ärgerte sich maßlos, dass sie Elena so angefahren hatte. Das war unnötig gewesen, schließlich ahnte ihre Freundin nicht, dass die Themen Jungs und Liebe bei ihr die totalen Abwehrreaktionen hervorriefen. Sie wusste, dass sie richtiggehend ausflippte - jetzt nach den Osterferien besonders -, aber sie konnte es einfach nicht ändern. Normalerweise hatte sie ihr Leben im Griff; beim Thema Liebe versagte ihre Kontrolle. Mist aber auch!
Die Jungs, die vorm Speisesaal standen, pfiffen anerkennend, als die beiden die Treppe herunterkamen. Nur Poldy, der ewige Miesmacher, konnte sich einen blöden Kommentar nicht verkneifen. »Charly, heut sind wir aber suuuper
feeesch.« Seine gedehnte Sprechweise war an diesem Tag besonders ausgeprägt. »Gehst auf die Pirsch? Wer, bitte schön, steht auf deiner Abschussliste?«
»Du bist mein erstes und einziges Opfer«, fuhr sie ihn an und streckte den Arm mit den wie eine Pistole gekrümmten Fingern aus. »PENG!«
Das Frühstück war an diesem Sonntag eine rasche und daher ungemütliche Angelegenheit.
»Die ersten Wagen rollen garantiert schon um neun durchs Tor«, prophezeite Mia. »Und ich sag euch was: Meine Eltern sind noch früher hier!«
»Darling, was soll der Stress?« Sophia-Leonie füllte ihre
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