Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
alles, was Ansel bisher gefunden hatte, waren Geheimnisse. Geheimnisse und Lügen.
Er blickte finster drein, als er den Band, der vor ihm lag, zuklappte und zu den Dutzend anderen auf dem hinteren Teil des Tisches schob, die er in der letzten Stunde durchgesehen hatte. Er hatte nicht die Zeit, jedes einzelne Buch zu lesen; er konnte immer nur ein paar Seiten überfliegen und versuchen herauszufinden, ob es das Werk war, nach dem er suchte. Das war die einzige Möglichkeit, die Mengen von brüchigem Pergament zwischen schimmelnden Ledereinbänden zu sichten, unter denen sich die Regale um ihn herum bogen, doch die Angst, er könnte den einen Band, den er suchte, dabei übersehen, nagte unablässig an ihm.
Ein zurückhaltendes Hüsteln zeigte ihm an, dass der Bibliothekar, der ihm zur Seite gestellt worden war, zurückgekehrt war. Ansel setzte eine ausdruckslose Miene auf, als der dünne junge Mann in der braunen Robe einen weiteren Bücherstapel neben seinem Ellbogen absetzte.
»Das sind die letzten Bücher von diesem Regal, Herr«, sagte er.
»Danke … Alquist, das war doch dein Name, oder?«
»Ja, Herr.« Auf seinem pickelnarbigen Gesicht erschien ein nervöses Lächeln und verschwand wieder. »Äh, Herr … ist das alles?«
»Nein, mein Sohn. Ich habe noch mehr Arbeit für dich.«
Das nächste Buch war ein monströser Band mit leicht gewölbten Holzdeckeln, die von Lederriemen zusammengehalten wurden. Gleich zwei Bibliothekare waren nötig gewesen, um es auf den Tisch zu wuchten. Es war vermutlich nicht das, was er suchte, aber er konnte es sich nicht erlauben, ein Werk nur aufgrund seines Formats unbeachtet zu lassen. Er stöhnte unter der Anstrengung, die es erforderte, es aufzuschlagen. Die steifen Blätter waren in einem besseren Zustand, als Ansel es aufgrund des Einbands erwartet hatte. Die Tinte jedoch war fast bis zur Unleserlichkeit verblasst. Er zog seine Lampe näher heran. Gütige Göttin, es würde mindestens eine Woche dauern, um auch nur die erste Seite in dieser engen Schrift zu entziffern.
»Die Abendandacht ist aber schon vorbei, und das Archiv schließt jetzt. Der Hüter …«
»Sag mir, Alquist, wer ist der Präzeptor unseres Ordens?« Ansel lehnte sich so auf seinem Stuhl zurück, dass die goldene Eiche vor seiner Brust im Licht aufglänzte. »Ich oder der Hüter des Archivs?«
»Natürlich Ihr, Herr. Aber der Hüter …«
»Der Hüter wird sich hüten«, sagte Ansel barsch. »Danke, Alquist. Ich werde nach dir läuten, wenn ich dich brauche.«
Der Bibliothekar steckte die Hände in die Ärmel seiner Robe und verneigte sich, aber Ansel war der Ausdruck des Leidens nicht entgangen, der ganz kurz sein Gesicht verzerrte.
»Selbstverständlich, Herr«, sagte er und zog sich in die Hauptbibliothek zurück.
Ansel sah ihm nach und schürzte die Lippen. Zweifellos würde der Hüter des Archivs ein paar harte Worte für den Jungen übrig haben, aber daran war nichts zu ändern. Er würde dafür sorgen, dass der Junge nicht bestraft wurde, weil er gegen Suvaeons höchsten Würdenträger nicht angekommen war, und er würde dafür sorgen, dass der Hüter selbst einmal in seine Schranken verwiesen wurde. Er war allzu aufgeblasen und hatte eine zu hohe Meinung von sich und seiner eigenen Wichtigkeit. Wen glaubte er eigentlich zu schützen? Die lebende und atmende Kirche oder Präzeptoren, die schon lange zu Staub zerfallen waren?
Er räusperte sich, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch vor ihm und kämpfte sich durch einige Zeilen. Aha. Es handelte sich um Transkriptionen von leahnischen Hexenprozessen aus dem frühen Zweiten Reich. Wenn er genügend Zeit hätte, wäre es sicherlich eine interessante Lektüre, doch leider war der eigenen Neugier nachzugeben ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte.
Er klappte den Deckel wieder zu. Dabei stieg eine Staubwolke in die Luft, und er musste heftig husten. Der Anfall dauerte nicht lange, aber er hinterließ ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust; es war, als ob seine Lunge von Stahlbändern eingeschlossen würde. Verdammt, er würde bald Hengfors aufsuchen müssen, der ihm zweifellos verbieten würde, seine Gemächer zu verlassen. Das durfte er nicht zulassen – zumindest noch nicht. Sobald er das gefunden hatte, was er suchte, sollte Hengfors seinen Willen bekommen – aber erst dann.
Mit den nächsten Bänden auf dem Tisch wurde er schnell fertig. Sie waren zum größten Teil wirres Zeug; er musste kaum einen ganzen Absatz
Weitere Kostenlose Bücher