Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
lesen, bevor er sie auf den wachsenden Stapel rechts von ihm legte. Das vorletzte Werk war ein Kräuterbuch, das vermutlich wegen der Zauberrezepte, mit denen die gewissenhaften Abhandlungen über die medizinischen Eigenschaften der syfrischen Sumpfpflanzen durchsetzt waren, auf den Index gesetzt worden war. Nachdem es ebenfalls wieder geschlossen und beiseitegelegt war, blieb nur noch ein einziges Buch übrig. Ansel griff nach der Handglocke aus Messing, die neben seiner Lampe stand, und läutete sie. Alquist sollte noch ein weiteres Regal leer räumen, bevor er endlich Feierabend machen durfte.
Das letzte Buch war schmucklos und unscheinbar. Es war kaum größer als seine Hand; das Leder des Einbands war teilweise abgeplatzt, und das vordere Vorsatzblatt war stark stockfleckig. Das war kein verheißungsvoller Anfang. Es war handgeschrieben; die Schrift war sauber – nicht die eines Schreibers, aber auf alle Fälle die einer Person, die zu schreiben gewohnt war. Vorsichtig blätterte Ansel die brüchigen Seiten um und überflog den dicht gedrängten Text, bis ein besonderer Name seine Aufmerksamkeit erregte. Er ging zurück zum Anfang des Absatzes und las ihn eingehend.
Beim ersten Licht des Tages erhielten wir die Nachricht von der Belagerung. Der Bote redete beinahe zusammenhanglos, weil er so vollkommen erschöpft war; er war vier Tage geritten und hatte dabei kaum vier Stunden Rast gemacht! Das wäre der Tod vieler Männer gewesen, aber anscheinend sind die Menschen dieser Ebene genauso widerstandsfähig wie ihre Pferde.
Die Belagerung wird fortgesetzt. Alle Straßen ins Tal sind vom Feind eingenommen, der sich wohl eingegraben hat, wenn ich einen solchen Begriff zur Beschreibung seines Lagers benutzen darf. Doch die Taktiken des Angriffs auf eine Befestigungsanlage sind ihm fremd. Die Feinde unternehmen keinen Versuch, den Boden unter den Mauern auszuhöhlen oder sie mit Belagerungsmaschinen zum Einsturz zu bringen. Stattdessen warten sie darauf, dass ihr Gegner verhungert und ihnen den Schlüssel für die Tore überreicht. Die Stadt ist gut versorgt, also wird Caer Ducain noch lange nicht fallen.
Caer Ducain. Der Anfang vom Ende der Gründungskriege. Das Datum oben auf der Seite bestätigte es. Endlich . Wenn er sich nicht sehr irrte, hielt er das Tagebuch des Präzeptors Malthus in den Händen, und seine Suche war fast beendet.
Schritte näherten sich aus der Bibliothek hinter ihm, und er schlug das Buch zu.
»Danke, Alquist, du kannst jetzt mit dem nächsten Regal anfangen«, sagte er und fügte rasch hinzu: »Unsere Aufgabe wäre viel leichter, wenn jemand auf den Gedanken gekommen wäre, dieses Archiv zu katalogisieren oder die Bücher wenigstens von Zeit zu Zeit abzustauben.«
Eine braune Robe erschien in seinem Blickfeld. An der Kordel auf Hüfthöhe baumelte ein Schlüsselbund, der in den richtigen Händen Wunder wirken konnte. Doch leider hatte der Hüter des Archivs nicht die richtigen Hände.
»Meisterhüter«, sagte Ansel und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, »wie freundlich von dir, hier vorbeizukommen.«
Der Hüter neigte den Kopf ein klein wenig. »Präzeptor.«
Sogar die Stimme des Mannes war blutleer. Von dem bleichen Haupt bis zu den schmalen, in Sandalen steckenden Füßen wirkte der Hüter wie etwas, was man am Boden eines Schmelzkessels fand, wenn man den Talg abgeschüttet hatte. Blasse Haut bedeckte die langen, fleischlosen Knochen, die unter der Robe den Umriss eines Mannes andeuteten. Die dunklen Augen, die starr wie die einer Schlange waren, lagen in tiefen Höhlen.
»Habt Ihr gefunden, was Ihr suchtet, Herr?«
»Leider dauert die Suche noch an. Dieser Teil des Archivs scheint mir ein wenig unorganisiert zu sein.«
Die blassen Lippen des Hüters zuckten. »Wir haben viele Bücher, Herr. Es sind mehr als dreihunderttausend Bände. Eine solche Sammlung zu katalogisieren erfordert viel Zeit.«
»Allerdings. Wie viele befinden sich deiner Meinung nach in diesem Raum?«
Der Hüter drehte den Kopf und betrachtete die Reihen der hölzernen Regale, die wie Infanteriebataillone in Erwartung der Inspektion dastanden und bis in die Dunkelheit jenseits des goldenen Kreises des Lampenscheins reichten, der den einzigen Lesetisch umgab. Seine Miene blieb unverändert. »Das kann ich nicht sagen.«
»Wenn sie katalogisiert wären, könntest du mir die genaue Anzahl nennen.«
»Das ist wohl wahr, Herr.« Die dunklen Augen des Hüters richteten sich auf das Buch in Ansels Händen.
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