Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
Springer konnte einen einzigen Zug machen, der Gair nicht sofort dem Untergang preisgab: nach hinten auf ein freies Feld, vier Züge von Darrins nächster Figur entfernt. Er hatte nur noch drei Bauern übrig und brauchte sie zum Schutz seiner Königin. Wie sehr er die kleinen geschnitzten Figuren auch anstarrte, er konnte keine Möglichkeit erkennen, noch einen weiteren Zug zu machen. Er hatte es einfach nicht vorhergesehen.
»Ich erkenne keinen Ausweg.«
»Du siehst nicht genau genug hin.«
Gair knurrte vor Frustration und starrte eine Figur nach der anderen eindringlich an. Darrin kippelte weiter mit seinem Stuhl und warf den kleinen Samtbeutel von der einen Hand in die andere.
»Das sieht dir gar nicht ähnlich, Gair. Was hat dich denn so unkonzentriert gemacht?«
Er hätte es erkennen müssen; es hatte mehr als genug Hinweise gegeben. Wie hatte er so blind sein können? Hatte er geschlafen? Bei der Gnade der Heiligen, was sollte er jetzt bloß machen?
»Gair?«
Es hatte ganz unschuldig begonnen. Sie hatten den Nachmittag damit verbracht, einander nachzujagen; es war nicht anders als an den Tagen zuvor gewesen. Dann war er in seine menschliche Gestalt zurückgekehrt und hatte in seinen Armen eine Frau vorgefunden. Sie hatte die kurze Orientierungslosigkeit ausgenutzt, die stets einer Verwandlung folgte. Heilige Mutter, seine Lehrerin!
Fang mich, wenn du kannst!
Gair streckte die Hand aus nach dem unwichtigsten seiner drei Bauern.
Natürlich war es ihm nicht gelungen, sie einzuholen, wie sehr er es auch versucht hatte, und sie hatte großen Spaß daran gehabt, ihn deswegen zu necken. Er wusste noch immer nicht, wie er geistige Botschaften übermitteln konnte, und so hatte er ihr nicht antworten können. Bei jedem zu weiten Sprung und jedem Biss, der sein Ziel verfehlt hatte, hatte sie gelacht und war ihm aus dem Weg getänzelt.
Und schließlich hatte sie allem die Krone aufgesetzt und ihn in den Fluss geworfen. Wie aus heiterem Himmel hatte sie ihn vom Ufer geradewegs in das eineinhalb Fuß tiefe Wasser gestoßen und nicht einmal den Anstand besessen, innerhalb der Reichweite der Tropfen zu warten, als er sich danach schüttelte.
Aber dieser Kuss war geblieben, noch lange nachdem sein Fell wieder trocken gewesen war. Ganz kurz, nicht länger als einen Herzschlag, hatte sich ihr Mund auf dem seinen befunden, so süß wie das Versprechen der Erlösung. Er hatte ihr vor einigen Tagen gesagt, dass er sie nicht erschreckend fand, aber, bei der Göttin, nun erschreckte sie ihn – oder zumindest kam das Gefühl, das sie in ihm hervorrief, nahe genug an Angst und Schrecken heran. Schweiß brach auf seinen Handflächen aus, er bekam einen trockenen Mund, und sein Herz schlug so heftig gegen seine Rippen, wenn sie den Blick ihrer Augen auf ihn richtete, dass es beinahe schmerzte.
Wenn er es jemandem erzählen konnte, dann vermutlich Darrin. Während seiner Zeit auf der Insel waren sie enge Freunde geworden; sicherlich konnte Gair ihm vertrauen. Schließlich hatte der sonnengebräunte Belisthaner kein Wort über Gairs Fähigkeit, seine Gestalt zu wandeln, verloren, seit er davon erfahren hatte. Seine Lehrerin! Was im Namen aller Heiligen sollte er tun?
Gair hielt die Hand über dem Bauern in der Schwebe und versuchte noch immer, den richtigen Zug zu finden. Darrin schwenkte den kleinen Samtbeutel an seinen Schnüren durch die Luft und summte unmelodisch.
»Ein schlechter Zug?«
»Ich würde ihn nicht machen, wenn ich an deiner Stelle wäre, aber mehr Hilfe gebe ich dir nicht.«
Gair erkannte noch immer nicht den Zug, von dem der Belisthaner beharrlich behauptete, er sei möglich. Grundgütige Göttin, er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Und er sah keine Möglichkeit, dass sich etwas zwischen ihm und Aysha entwickeln konnte. Es gab keine Aussicht auf eine Beziehung. Sie saß im Rat, und trotz des Mantels, der im hinteren Teil seines Schrankes lag, war er noch nicht einmal in den Stand eines Novizen erhoben worden.
»Ich habe verloren, Darrin. Das weißt du. Warum lässt du es nicht zu, dass ich aufgebe? Dann kann ich wenigstens davonschleichen und meine Wunden lecken.«
»Auf gar keinen Fall«, kicherte der Belisthaner. »Dein verblüffend gutes Spiel hat dich hierhergeführt, und jetzt musst du selbst den Ausweg finden.«
20
Die Antwort musste irgendwo hier sein. Bei so vielen Büchern und so großem angehäuftem Wissen in diesem Raum musste sich doch irgendwo das befinden, wonach er suchte. Aber
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