Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Einige waren sicherlich entkommen, hatten einen anderen Hafen gefunden …
    Wo waren die Schiffe?
    Er musste seine Reichweite vergrößern. Masen zog noch mehr von dem Sang in sich zusammen und benutzte ihn, um seine Sinne sieben Meilen weit hinaus zu treiben, obwohl es in seinen Schläfen wild pochte und er seinen Puls in den Ohren hörte und im Gesicht spürte. Er biss die Zähne zusammen, zog die Lippen vor Anstrengung zurück und stieß einen weiteren stummen, verzweifelten Schrei aus …
    Dann musste er aufgeben.
    Trotz des Gestanks in der Luft atmete er tief ein, legte den Kopf zurück gegen den nassen Stein, und der Regen wusch ihm das Gesicht und kühlte es ihm. Es hatte keinen Sinn. Ihm wäre beinahe das Herz geplatzt – und wofür? Er hatte gar nichts erreicht. Mit geballten Fäusten schlug er gegen den Stein.
    Gute Göttin, er war so müde! Er schlief recht gut, aß so viel wie möglich von den Speisen, die die Scharlachfeder zu bieten hatte, auch wenn deren Vorräte bald erschöpft sein würden, und dennoch war er bis auf die Knochen ausgezehrt. Er war zerstört durch den Gestank, durch die sich träge dahinziehenden Tage und die Ausdünstungen der Hoffnungslosigkeit, die über dem schwebten, was einmal eine lebendige, fröhliche Stadt gewesen war.
    Wer ruft da?
    Die Stimme klang klar und golden wie ein Sonnenstrahl.
    Masen riss die Augen auf. Jemand hatte ihn gehört! Irgendwie und irgendwo hatte irgendwer ihn gehört. Er streckte seine inneren Fühler aus und suchte nach den Farben der Sprecherin.
    Wer ruft da? , fragte sie erneut. Ihr Akzent klang melodisch und fremdartig.
    Mein Name ist Masen . Er konnte die Gegenwart seiner Gesprächspartnerin an nichts erkennen, schickte aber ein Bild seiner eigenen Farben in der Hoffnung, dass sie mit ihrer größeren Gabe in der Lage war, sie zu entdecken.
    Du bist weit weg, Masen. Dein Zeichen ist mir unbekannt.
    Ich weiß. Bitte, ich brauche deine Hilfe.
    Mein Schiff befindet sich vier Seemeilen südwestlich der Perleninseln. Wie kann ich dir helfen?
    Vier Meilen von den Malin-Inseln entfernt? Masen keuchte auf. Das bedeutete, dass sich die Sprecherin zweihundertdreißig Meilen weit weg befand, aber sie sprach so klar und deutlich zu ihm, als würde sie ihm ins Ohr flüstern! Wenn ihn jemand noch retten konnte, dann war es eine Meerelfe. Falls sie dazu bereit war.
    Dame, der Schleier wird schwächer. Ich muss diese Nachricht zu den Wächtern bringen. Ich beschwöre dich, kannst du mich nach Westen bringen?
    Die Meerelfe schwieg.
    Dame?
    Als ihre Stimme zurückkehrte, war sie barsch und mitleidslos. Die Pest herrscht in deiner Stadt. Wir können uns ihr nicht nähern.
    Dame, bitte denk noch einmal darüber nach! Der Schleier betrifft uns alle. Wenn er zerreißt, wird dein Meer sterben. Alles wird sterben.
    Ich sage es noch einmal, Masen von der weißen Stadt. Wir können uns nicht nähern. Wir werden es nicht tun. Möge der Wind dir auf deinem Wege beistehen.
    Dame! Schiffssängerin! Bitte hilf mir!
    Die Stimme antwortete nicht. Masen lauschte angestrengt auf ein weiteres Wort, aber es war nichts mehr zu vernehmen als das Seufzen der See, das Zischeln des Regens und die hallende Stille in seinem Schädel.
    Dame, bitte!
    Eine andere Stimme ertönte; sie war scharf wie ein Dolch. Die Dame hat gesprochen. Bedränge sie nicht.
    Ich will sie nicht bedrängen, Schiffsmeister. Ich bitte nur um ihre Hilfe. Ich fürchte um den Schleier und das Ende unseres Zeitalters .
    Der Kapitän antwortete nicht, aber das Gefühl seiner Gegenwart schwand nicht. Er wirkte kühl und nachdenklich.
    Bist du einer der Wächter?
    Ja, Schiffsmeister. Ich bin ein Torwächter des Ordens.
    Du würdest nicht leichthin eine solche Bedrohung behaupten, oder?
    Niemals. Ich habe mich dem Schutz des Schleiers verschworen .
    Eine weitere Pause trat ein.
    Zwei Tage. Halte bei Flut nach uns Ausschau und sei bereit .
    Zwei Wölfe brachen aus dem Birkenwald hervor und jagten über eine Hochgebirgswiese. Mit peitschendem Schwanz und heraushängender Zunge rannten sie durch das hohe Gras und schnappten nach einander wie Wolfskinder, die den Bau zum ersten Mal verlassen durften. Sie rasten hin und her, kreuzten den Pfad des jeweils anderen, machten plötzliche Ausweichmanöver und kamen wieder zueinander, während ihnen die Sonne warm auf den Rücken schien und die gelben Birkenblätter durch die Luft trieben. Hasen klopften Alarmzeichen und stoben auseinander; Rebhühner schossen vor den Pfoten der Wölfe