Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
hatten die erste Meile am nächsten Morgen schon hinter sich gelassen, noch bevor die Sonne über den Horizont gestiegen war, und sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, war von ihnen erwartet worden, dass sie unverzüglich kämpften!
Und sie hatten gekämpft. Irgendwie hatten die Legionen gekämpft, auch wenn die Gliedmaßen der Männer wie aus Holz gewesen waren und die Waffen sie wie Bleigewichte zu Boden gezogen hatten. Zunächst hatten sie eine Straße ins Tal eingenommen, dann eine weitere, und schließlich hatten sie die Belagerer vor der Stadt angegriffen. Die Verteidiger der Stadt hatten daraufhin alles, was sie besaßen, für einen letzten Ausfall eingesetzt, und dieser Angriff von zwei Seiten aus hatte Gwlach auf den Fluss zu getrieben und seine Krieger in Verwirrung gestürzt.
Wie süß der Geschmack unseres ersten Sieges war! So frisch und belebend wie Wasser aus einer Quelle im Gebirge. Es wäscht die Müdigkeit aus unseren Gliedern und besänftigt die Schmerzen unserer zahlreichen Verwundeten. Morgen werden wir um die Gefallenen trauern und Gebete für ihre Seelen sprechen, aber heute Nacht werden wir feiern, denn wir haben gute, wenn auch blutige Arbeit geleistet. Wer weiß, wie viele Leben wir gerettet haben? Wenn diese Zahl errechnet werden könnte, dann dürften wir annehmen, dass wir sie zu einem geringen Preis erkauft haben. Ohne Fellbann hätte es mit uns ein ganz andere Ende genommen, wie ich fürchte .
Der Eintrag des nächsten Tages lautete:
Gwlach hat sich in den Norden zurückgezogen und seine Truppen neu aufgestellt. Er weiß, dass wir den Sieg jetzt noch nicht erringen können. Mensch und Tier müssen ausruhen, müssen genährt werden, genau wie seine eigenen Männer. Ich habe Späher ausgesandt, die ihn beobachten, und sie berichten, dass er Reiter nach Norden, Westen und Osten geschickt hat. Der Kommandant der Garnison von Caer Ducain deutete an, dass er dort seine Reserven aufgestellt hat – mindestens zehntausend weitere Männer. Das würde ihm zumindest zahlenmäßig einen Vorteil verschaffen. Wir wissen nicht, über wie viele weitere Zauberinnen er verfügt. Wenn wir gegen ihn losschlagen, dann muss es schnell und hart geschehen, bevor er seine Reserven gegen uns in Stellung bringen kann .
Am Abend vor der Schlacht beim Strömenden Fluss, als sich das Schlachtenglück unwiderruflich zugunsten des Ordens wendete, war der Eintrag sehr kurz. Er bestand lediglich aus zwei Absätzen:
Ich habe heute mit Fellbann gesprochen. Er ist ein einfacher Mann, womit ich ausdrücken will, dass er unkompliziert ist. Er sieht seine Aufgabe sehr klar: sie ist das einzig Richtige. Es wäre falsch, etwas anderes zu tun. Welche Klarheit des Ziels! Aber ich muss über den morgigen Tag hinaus denken. Die Not ist groß, das Ziel ist gerecht, daran hege ich keinen Zweifel. Es ist das Mittel, das an mir zerrt wie Wölfe in meiner Seele.
Er nimmt die Aufgabe, die ich ihm anvertraut habe, mit einem so großen Gleichmut an. Seine Glaubensstärke beschämt mich. Er macht mich demütig. Ich bete zur Göttin, dass sein Schatten eines Tages die Kraft finden wird, mir für das zu vergeben, was ich ihn in Ihrem Namen zu tun gebeten habe .
Das war alles. Mehr hatte Malthus nicht geschrieben. Verzweiflung hallte in jedem einzelnen Wort wider und durchzitterte das gesamte Buch. Ansel hörte die Stimme des längst verstorbenen Präzeptors in seinen Kopf, spürte seine Qualen und wollte ihm zurufen, er solle seinen Bericht beenden und endlich die Wahrheit über das niederschreiben, was an jenem Tag geschehen war. Selbst wenn keine anderen Augen als die seinen es je lesen würden, hätte es dann doch jemand gesehen und begriffen, und es wäre nicht verleugnet worden wie ein uneheliches Kind.
Er schloss das Buch und fuhr mit den Händen über den Einband. Geheimnisse und Lügen bildeten das Fundament seines geliebten Ordens geradeso, wie es die Steine und der Mörtel unter dem Mutterhaus taten. Es war an der Zeit, dass sie ans Licht gebracht wurden. Die Suvaeoner sollten ihre Narben stolz zur Schau stellen, wie Ehrenzeichen, auch wenn sie entstellend sein mochten. Sie zeigten, dass nicht die gewonnenen, sondern die verlorenen Schlachten den Charakter eines Menschen formten. Sie waren es, die ihn zum Mann machten oder auf dem Rad der bitteren Erfahrung zerschmetterten. Narben waren nichts, dessen man sich schämen musste.
Das Feuer war inzwischen niedergebrannt. Ansel griff in den Kasten und warf ein Torfbrikett in den
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