Die Lieferung - Roman
Fingerspitzen gespürt hatte, war viel zu groß und uneben gewesen, um die Blutung zu stoppen.
Der Mann hatte sie angesehen, aber sein Blick war bereits abwesend und weit entfernt. Als hätte ihm jemand eine Gardine vor die Augen gezogen. Diesen Blick kannte sie. Natürlich. Sie war Krankenschwester und hatte schon viele Menschen sterben sehen.
Trotzdem war es in diesem Fall anders.
Der Geruch des warmen Blutes und der klebrig rote Strom, der über ihren Arm rann, raubten ihr fast die Besinnung. (Vergiss die Zeit nicht, Nina, halt dich wach. Du darfst nicht wieder die Zeit vergessen.)
Sie schüttelte leicht den Kopf und versuchte noch einmal, den Blick des Mannes einzufangen. Es gab etwas, das sie wissen musste. Sie musste wissen, ob sie das Richtige getan hatte.
»Did you kill her?«
Der Mann flackerte mit den Augenlidern, und sein Atem ging langsam und rasselnd. Wahrscheinlich war auch seine Luftröhre verletzt. Er sah sie nicht an, aber sie wusste, dass er sie gehört hatte.
»Karin. The woman in the summerhouse. Did you kill her?«
Seine Lippen öffneten sich, doch es war nur ein Zischen zu hören. Seine Augen waren matt geworden, wie trockene, dunkle Steine auf einem Strand. Er hatte ihr nicht geantwortet. Und trotzdem war sie sich ihrer Sache plötzlich vollkommen sicher.
Jetzt kann ich ihn sterben lassen, dachte sie und blickte auf ihre Hände. Das Blut spritzte noch immer an ihre Unterarme und über den hellen Parkettboden. Ich kann loslassen und ihn sterben lassen. Er hat Karin getötet, er hat ein Kind entführt, er hat es nicht besser verdient.
Aber sie tat es nicht.
Nina drückte die Fingerspitzen noch etwas weiter in die Wunde. Vielleicht gab es noch eine bessere Stelle, um die Ader abzudrücken, vielleicht musste sie einfach fester pressen. Sie nahm jetzt beide Hände.
Der Strom des Blutes nahm ab, aber nicht, weil sie eine bessere Stelle gefunden hatte, sondern weil der Mann bald verblutet war. Da hob sich mit einem Mal sein Brustkorb und fiel gleich darauf mit einem langgezogenen Seufzer zusammen. Alles war still.
Nina blieb noch einen Augenblick mit den Fingern an seinem Hals sitzen und spürte die bekannte stechende Trauer in ihrer Brust. Aber nur kurz.
Er wäre nicht zu retten gewesen, dachte sie, egal, was sie getan hätte, und mit dieser Erkenntnis löste sich irgendwo tief in ihr ein Knoten.
(Sein Tod war nicht zu verhindern gewesen, egal, was sie getan hätte.)
Nina verabschiedete sich noch unten auf der Straße von der Polizistin, die sie nach Hause gefahren hatte. Sie war müde und zermürbt, und der Gedanke an einen fremden Menschen in ihrem Zuhause war ihr zuwider. Sie könnte es jetzt nicht ertragen. War zu nichts mehr in der Lage.
Sie wusste, dass Morten sie erwartete. So viel hatte sie von der Frau in Uniform erfahren. Natürlich hatten sie ihn sofort informiert, und er war »glücklich zu hören, dass sie in Sicherheit war«, wie die Polizistin sagte.
Nina dachte über diese Worte nach, als sie die erste Treppenstufe nahm. Sie zweifelte nicht daran, dass Morten erleichtert war, aber »glücklich« war ein großes Wort für Morten und ihre momentane Beziehung. Sie vermutete, dass er alles andere als glücklich war, und der Ausdruck in seinem Gesicht bestätigte augenblicklich ihre schlimmsten Ahnungen.
Er musste ihre Ankunft vom Fenster aus beobachtet haben, da die Wohnungstür sperrangelweit offen stand und Morten sie mit verschränkten Armen auf dem Treppenabsatz empfing. Es sah fast so aus, als wollte er ihr mit seinem Körper den Zugang zu ihrer gemeinsamen Wohnung verwehren. Nina wurde automatisch langsamer und blieb auf der vorletzten Stufe stehen.
»Da bist du also.«
Mortens Stimme war tonlos, fast flüsternd.
Nicht zornig, nicht verzweifelt. Da war etwas anderes, das
sie nicht richtig benennen konnte, und unter dem Blick, mit dem er sie bedachte, zog sie unwillkürlich den Kopf ein. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und machte den letzten Schritt auf den Absatz.
Sie stand nun so nah vor ihm, dass sie ihn beinahe berührte, und musste heftig gegen den Drang ankämpfen, ihr Gesicht in seine Halsbeuge an die kleine Mulde über dem Schlüsselbein zu legen.
»Darf ich reinkommen?«
Sie versuchte, ihre Stimme fest und selbstbewusst klingen zu lassen, aber ihr Hals schnürte sich unerbittlich zu einem wunden, schmerzhaften Knoten zusammen. Das erste klare Anzeichen für die Tränen, die irgendwann kommen würden, dabei wollte doch sie diejenige sein,
Weitere Kostenlose Bücher