Die Lieferung - Roman
und auch die Blutung, aber die Arterien waren unverletzt, so dass er nicht in Lebensgefahr war. Der Mann
bewegte seinen Körper leicht hin und her, um die Schmerzen besser ertragen zu können.
»Bleiben Sie still liegen«, sagte sie. »Es wird schlimmer, wenn Sie sich bewegen.«
Er hatte sie offenbar gehört, denn er hielt mit der Bewegung inne, öffnete die Augen aber noch nicht.
Nina sah sich nach etwas um, das sie als Verband benutzen konnte, aber in diesem Haus gab es weder Tischtücher noch Zierkissen oder Kuscheldecken auf dem Sofa. Am Ende zog sie ihre Bluse aus und verwendete sie als Behelfskompresse. Es gab nichts, womit sie ihn zudecken konnte, um den Temperaturverlust auszugleichen, den sein Körper durch den Schock erlitt. Sie suchte nach einer Nackenstütze, fand aber nichts außer den Geldbündeln, die sie ihm schließlich unter den Hals schob.
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der jungen Frau zu, die fieberhaft gegen die breiten Klebestreifen ankämpfte, mit denen sie gefesselt war. Ihre glatten braunen Haare klebten ihr an der verschwitzten Stirn, und man konnte sehen, dass sie geweint hatte. Sie kam Nina irgendwie bekannt vor, sie wusste aber nicht, woher.
Während Nina dem Mann erste Hilfe geleistet hatte, hatte sie die Rufe der Frau verdrängt, die irgendwann resigniert verstummt waren. Jetzt sah sie Nina mit tränennassen Augen an.
»Please, help me!«, sagte sie dann.
Nina erblickte in dem Wirrwarr aus Werkzeugen, Kabeln und allerlei Kleinkram auf dem Sofatisch ein Messer. Sie nahm es und durchtrennte damit das Klebeband an den Händen und Füßen der Frau. Sie sprang mit einer Geschwindigkeit auf, die man der kleinen, etwas rundlichen Frau niemals zugetraut hätte, schnappte sich den Werkzeugkoffer und hastete aus dem Raum.
In dem Moment waren oben Schüsse zu hören. Zwei
Schüsse, kurz hintereinander. Zum ersten Mal begann Nina zu zweifeln und warf einen Blick auf den verletzten Mann.
Sie wusste nicht. wie stabil sein Zustand wirklich war, aber im Moment konnte sie nicht mehr für ihn tun. Sie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Ihre Finger zitterten leicht, und als sie noch einmal einen Blick auf ihre Uhr warf, wurde ihr plötzlich bewusst, wer die Frau war, obwohl sie sie niemals zuvor gesehen hatte.
Es war 21.39 Uhr. Nina warf einen letzten Blick auf den Verletzten und lief Mikas’ Mutter nach.
Es gelang Sigita nicht, sich zu befreien. Das Gewicht des Mannes presste sie zu Boden, und eine seiner Hände hielt ihre Haare umklammert. Er war so schwer. Einen kurzen Moment lang erinnerte die Stellung sie bizarrerweise an Darius, an Sex mit ihm, nur dass das Lachen und die Küsse und der atemberaubende Höhepunkt fehlten. Die Pistole war ihr aus der Hand geglitten, und sie wusste nicht, wo sie lag. Der massive Körper auf ihr erschwerte ihr das Atmen mehr und mehr. Voller Angst dachte sie an die Menschen, die auf diese Weise in Nachtclubs oder Fußballstadien umgekommen waren. Konnte man wirklich vom Gewicht eines einzelnen Menschen erdrückt werden? Es fühlte sich so an.
Wo war die verzweifelte Kraft, die sie noch vor einem Augenblick beflügelt hatte und mit der sie ihm die Werkzeugkiste mit voller Wucht an den Kopf gedonnert hatte? Dieser Mann hatte ihr Mikas weggenommen. Und obgleich sie ihn unten im Wohnzimmer angefleht und angebettelt hatte, wieder und wieder, hatte er ihr nicht verraten, wo ihr Sohn war. Nicht einmal, als er kurz darauf mit dem Dänen zurückkam und sie wusste, dass Mikas ganz in der Nähe sein musste. Er fauchte sie an und forderte sie auf, endlich den Mund zu halten, wenn ihr das Leben ihres Sohnes etwas wert sei. Danach wagte sie nicht mehr zu fragen.
Bilder aus den Alpträumen, die sie in den letzten Tagen auf Distanz zu halten versucht hatte, flimmerten ihr durch den Kopf. Sie sah Mikas in einer Kiste liegen oder in einem Kofferraum,
in dem die Luft immer knapper wurde. Oder noch schlimmer, im Kühlcontainer eines Lastwagens, kalt und blau und ausgeweidet wie ein Tier. Woher wollte sie denn wissen, ob er noch am Leben war? Sie hatte nur das Wort dieses Mannes, und dem war nicht zu trauen. Sie wollten nur seine Niere. Der Rest war ihnen egal. Seine dunkelblauen Augen, sein glucksendes Lachen, der Eifer in seinem Gesicht, wenn die Worte so aus seinem Mund sprudelten, dass selbst sie ihn nicht mehr verstand.
Der Mann bewegte sich nicht. War er tot? Sigita begann wieder zu kämpfen, obgleich sie kaum mehr Luft bekam.
Da rollte plötzlich
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