Die Lieferung - Roman
nicht gerade furchterregend gewirkt, aber sie hatte ihn auch erst kennengelernt, nachdem ihm das Projektil einer 9-Millimeter-Pistole das Schlüsselbein zerfetzt hatte und er unter Schock in seinem eigenen Blut lag.
Karin kannte ihn besser. Gut genug, um eine solche Heidenangst vor ihm zu haben, weil sie sich seinem Befehl widersetzt hatte. Dabei hatte sie die Dollarbündel gar nicht genommen, die lagen noch immer auf dem Boden neben Jan Marquart. Vor was also hatte sich Karin gefürchtet? Was, glaubte sie, würde er mit ihr anstellen? Warum hatte sie die Wohnung Hals über Kopf verlassen und sich in dem kleinen Ferienhaus versteckt?
Sie hatte Angst vor Menschen, die Kinder in Koffer stecken, dachte Nina plötzlich, und vor denen, die sie dafür bezahlen. Sie glaubte, ich könnte Mikas retten. Und das habe ich in gewisser Weise wohl auch getan. Nur Karin hat niemand gerettet.
In der Ferne war das Heulen der Sirenen zu hören. Die Zeit war fast um. Sie stand auf, um das Licht zu löschen und die Wohnung zu verlassen, doch als sie die Hand nach dem Schalter ausstreckte, fiel ihr Blick auf die Postkarten, Zettel und Fotografien, die Karin an die Kühlschranktür geheftet hatte.
Überrascht stellte sie fest, dass es eine richtige kleine Nina-Ecke gab. Oben rechts hing ein Bild von ihr und Karin, ein uraltes Foto von einem Konzert in Stakladen. Damals vor 100 Jahren, als sie gerade mit der Krankenschwesternausbildung begonnen hatten. Karin hatte die Haare wie in den 8oern hochgesteckt, trug einen Lidstrich wie Kleopatra und Ohrringe, die ihr fast bis auf die Schultern reichten. Sie lachte ausgelassen in die Kamera. Nina trug natürlich Schwarz, lächelte aber ausnahmsweise auch in die Kamera, wenn auch nicht so breit wie Karin.
Dieses Foto hat sie 17 Jahre lang aufgehoben, dachte Nina. An wie vielen Kühlschranktüren es inzwischen wohl gehangen hat? Unter diesem Foto hing ein Hochzeitsfoto von Nina, ein Schnappschuss vor dem Brunnen am Rathaus von Århus. Nina erinnerte sich nicht mehr, wer auf die Super-Idee gekommen war, aber Morten und sie sahen absurd jung aus und blickten sich mit einem Ernst an, dass man meinen konnte, sie hätten bereits dunkle Vorahnungen gehabt. Ninas Kleid konnte nicht ganz verbergen, dass sie im vierten Monat mit Ida schwanger war.
Weiter unten hingen Geburtsbilder von Ida und Anton. Diese Karten mit den Fotos der schrumpeligen, roten Neugeborenen und einem winzigen schwarzen Fingerabdruck, die sie verschickt hatten.
Hier hängt mein Leben, dachte Nina, schon seit Jahren, zwischen Fotos von Nichten und Neffen, zwischen Zahnarztterminen und Ferienpostkarten. Hier, wo sie es jeden Tag sehen konnte, wenn sie wollte.
Eine klebrige, dunkle Mischung aus Sehnsucht, Trauer, Selbsthass und Schuldgefühlen rührte sich in ihr. Es würde lange dauern, diese Empfindungen zu sortieren, länger, als sie jetzt Zeit hatte. Sie schaltete das Licht aus, schloss die Tür und hörte das elektronische Schloss einrasten. Während die Sirenen sich näherten, setzte sie sich auf die Treppe und wartete. Sie sollte nach unten zu Jan Marquart gehen, aber im Moment ertrug sie die Vorstellung nicht, ihn zu sehen. Durch seine Hände war Karin zwar nicht zu Tode gekommen, aber er hatte den Mann bezahlt, der es getan hatte. Karins Angst war nur zu berechtigt gewesen.
Ihr Kopf tat unglaublich weh, und sie wusste, dass sie sich stationär behandeln lassen sollte, aber sie konnte einfach nicht. Sie wollte nur noch nach Hause. So schnell wie möglich, wenn
man sie denn ließ. Sie hatte ihre Hände und Arme gründlich gewaschen, spürte aber noch immer das Blut des Litauers zwischen den Fingern kleben, und auch unter den Nägeln war es deutlich zu erkennen.
Sie hatte keine Angst gehabt. Jedenfalls nicht vor ihm.
Der Mann hatte in einer Blutlache am Boden gelegen, die unter seinem Kopf immer größer wurde. Er hatte sich nicht bewegt, aber der große Körper hatte leicht gezittert, als fröre er, und so, wie er dort am Boden gelegen hatte, hatte sie eigentlich nur Mitleid mit ihm empfinden können. Oder Erbarmen, dachte Nina, denn er hatte wirklich erbärmlich ausgesehen.
Als sie ihn von der Frau gewälzt hatte, sah sie den Blutstrom, der in rhythmischen Strahlen aus seinem Hals spritzte. Sie hatte gewusst, dass er sterben würde. Trotzdem war sie instinktiv neben ihm niedergekniet und hatte zwei Finger in die klaffende Halswunde gepresst. Doch das Loch in der zähen, gummiartigen Schlagader, die sie unter ihren
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