Die Lieferung - Roman
wiederkommen.«
»Das werde ich«, sagte Sigita.
Plötzlich lächelte die dunkelhaarige Frau, kurz und intensiv, wobei ihre dunkelgrauen Augen auflebten und der Ernst einen Moment verschwand.
»Er ist in der Garage«, sagte sie. »In dem grauen Auto.«
Mikas stand in der Tür, die dunkle Garage hinter sich. Er stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab, als hätte er gerade erst laufen gelernt. Als er sie erblickte, huschte ein Ausdruck über sein Gesicht, der weder Freude noch Angst war, wohl eher eine Mischung aus beidem. Sie konnte ihn nicht auf den Arm nehmen, das ging mit dem Gips nicht. Aber sie kniete sich neben ihn und drückte ihn mit ihrem gesunden Arm fest an sich. Sein kleiner Körper war warm und roch nach Angst und Urin, aber er klammerte sich an sie wie ein kleiner Affe und bohrte sein Gesicht in ihre Halsbeuge.
»Mein kleiner Schatz«, murmelte sie. »Mein kleiner Schatz!«
Sie wusste nur zu gut, dass eine schwere Zeit mit schlimmen Träumen auf sie zukam. Aber als sie jetzt dasaß und Mikas’ warmen Atem auf ihrer Haut spürte, wusste sie, dass irgendetwas, vielleicht das Schicksal, das Leben oder Gott persönlich, ihr vergeben hatte, was sie getan hatte.
Es blieb ihnen nicht viel Zeit, dachte Nina. Bald würde es losgehen: Polizei, Rettungswagen, all das, was im Kielwasser von Unglücken und Todesfällen eben folgte. Vermutlich hatten sie gerade noch die wenigen Minuten, die ein Einsatzfahrzeug von Kalundborg hierher brauchte.
Anne Marquart hatte vom Handy ihres Sohnes aus Hilfe gerufen und danach Mikas und seiner Mutter ihren blauen Kombi geliehen. Es war besser, wenn sie nicht im Haus waren, wenn die Beamten kamen, meinte sie. Jan Marquart lag noch immer auf dem Wohnzimmerboden, jetzt aber mit einem Kissen unter dem Kopf und gut zugedeckt. Nina hatte ihn verbunden und so weit stabilisiert, wie ihr das mit den zur Verfügung stehenden einfachen Mitteln möglich war.
Anne Marquart sah aus, als könnte der leiseste Windstoß sie umwerfen, trotzdem steckte unter der Pastellfassade eine unvermutete Stärke. Dass ein Toter in einer Blutlache in ihrem Treppenhaus lag, schien sie nicht zu erschüttern, und ebenso unverrückbar hielt sie an ihrem Vorsatz fest, die Verantwortung für seinen Tod zu übernehmen. Gemeinsam mit Nina hatte sie den Toten aus Rücksicht auf Aleksander mit einem Betttuch abgedeckt und dann Nina eine cremefarbene Bluse als Ersatz für die angeboten, mit der sie die Schusswunde ihres Mannes verbunden hatte. Im Hemdkragen stand Armani, wie Nina bemerkte, ehe sie schuldbewusst ihre notdürftig gewaschenen Arme in die teuren Ärmel steckte.
Anne führte sie ums Haus herum bis zu einer Tür im Anbau.
»Hier ist es«, sagte Anne und tippte einen Code ein. »Oben im ersten Stock. Gehen Sie einfach hinein. Ich werde mich solange um Jan kümmern.«
Nina nickte. Karins Tür war mit gelbem Polizeitape versiegelt, aber Nina öffnete sie trotzdem und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Das Licht im Flur schaltete sich automatisch ein, als sie eintrat, irgendwo musste ein Bewegungsmelder sein. Sie fand den Schalter und machte auch das Licht im Wohnzimmer an.
Hier also hatte Karin gewohnt. Ihre Mäntel hingen im Flur, auf dem Boden standen ihre Schuhe, und in der Luft hing noch schwach der Duft ihres Parfüms. Ihre ganz spezielle Mischung aus Unordnung und Pedanterie. Bücher- und Zeitschriftenstapel durften in den Himmel wachsen - das war für Karin keine Unordnung. Dabei wusste Nina genau, wie anders es im Schlafzimmer aussah. Dort war selbst die Schmutzwäsche ordentlich zusammengefaltet.
Sie erkannte Karins alten Schaukelstuhl, ein Erbstück, das sie seit der Studienzeit begleitet hatte. Ansonsten hatte sich ihr Stil im Einklang mit ihrem Kontostand geändert. Conran und Eames statt Ikea. Eine noble italienische Espressomaschine in der kleinen, offenen Küche. Echte, moderne Kunst an den Wänden.
Auf dem Schreibtisch stand ein schicker kleiner Drucker, aber kein Computer. Den hatte die Polizei vermutlich ebenso beschlagnahmt wie die Papierstapel, die ganz offensichtlich fehlten. Eine Schublade stand noch immer einen Spaltbreit auf.
Nina setzte sich in den Schaukelstuhl. Sie war nicht hier, um herumzuschnüffeln, sondern um Abschied zu nehmen.
Nina hatte viel über Karins Angst nachgedacht. Die letzten Stunden ihres Lebens war sie völlig verängstigt gewesen, schon bevor der Litauer sie gefunden hatte. Hatte Jan ihr solche
Angst gemacht? Er hatte auf Nina
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