Die Lieferung - Roman
einmal von ein paar wenigen besonderen Anlässen ab.
Er nahm einen letzten Zug, warf die Zigarette weg, trat die Glut aus und blieb ein paar Minuten stehen, bis der Wind den Geruch aus Kleidern und Haaren geblasen hatte. Anne wusste nicht, dass er wieder zu rauchen begonnen hatte.
Noch einmal fischte er das Bild aus seiner Brieftasche, wo er es aufbewahrte, weil er nicht das Risiko eingehen wollte, dass Anne es in die Finger bekam. Sie war viel zu wohlerzogen, um in seine Brieftasche zu sehen. Er hätte es schon vor langem wegschmeißen sollen, musste aber einfach hin und wieder einen Blick darauf werfen. Er brauchte das Gefühl der Hoffnung und der bangen Furcht.
Der Junge blickte direkt in die Kamera. Seine dünnen, nackten Schultern waren vorgeschoben, als krümmte er sich zusammen. Man konnte nicht genau erkennen, wo das Foto aufgenommen worden war, die Details verloren sich im Dunkel des Hintergrundes. In einem Mundwinkel waren Spuren von Schokolade zu erkennen.
Jan berührte das Bild ganz leicht mit dem Zeigefinger. Dann steckte er es wieder in die Brieftasche.
Sie hatten ihm ein Handy geschickt, ein älteres Nokia-Modell, das er sich niemals selbst gekauft hätte. Vermutlich gestohlen. Er holte es aus der Tasche, wählte die Nummer und wartete darauf, dass sich jemand meldete.
»Mr. Marquart.« Die Stimme klang höflich, hatte aber einen starken Akzent. »Hello. Have you decided?«
Obgleich er seinen Entschluss gefasst hatte, zögerte er so lange, dass die Stimme am anderen Ende nachfragen musste.
»Mr. Marquart?«
Er räusperte sich.
»Yes. I accept.«
»Good. Here are your instructions.«
Er lauschte den kurzen, präzisen Sätzen und schrieb Ziffern und Zahlen auf. War freundlich und korrekt, wie der Mann am Telefon. Doch danach konnte er sich nicht mehr zurückhalten und schleuderte voller Wut das Handy über das Geländer.
Er sah es mehrmals auf dem Abhang aufschlagen, ehe es weiter unten im Heidekraut verschwand. Dann setzte er sich ins Auto und fuhr hinauf zum Haus.
Kaum eine Stunde später kroch er unten im Heidekraut herum und suchte. Anne trat auf die Terrasse und beugte sich übers Geländer.
»Was treibst du da?«, rief sie zu ihm hinunter.
»Ich hab was verloren«, antwortete er.
»Soll ich runterkommen und dir helfen?«, rief sie zurück.
»Nein, nicht nötig.«
Sie blieb noch eine Weile stehen. Der Wind zerrte an ihrem pfirsichfarbenen Sommerkleid und wirbelte ihre schulterlangen blonden Haare nach oben, so dass es aussah, als stürzte sie im freien Fall nach unten. Ohne Fallschirm, dachte er. Doch er verdrängte den Gedanken, noch ehe er sich richtig entfaltet hatte. Es würde schon klappen. Anne musste nichts davon erfahren.
Es dauerte beinahe anderthalb Stunden, bis er das verdammte Handy gefunden hatte. Und dann musste er auch noch die Fluggesellschaft anrufen. Es war besser, wenn seine Sekretärin von dieser Reise keine Kenntnis hatte.
»Wo musst du hin?«, fragte Anne.
»Nur kurz nach Zürich.«
»Stimmt was nicht?«
»Nein«, sagte er schnell. Ihr stand bereits wieder die Angst in den Augen, so dass er sie automatisch zu beruhigen versuchte. »Es geht bloß um Geld. Ich bin ganz schnell wieder zu Hause.«
Wie war es nur so weit gekommen? Plötzlich musste er an diesen Tag im Mai denken, vor mehr als zehn Jahren, als Keld sie durch den Mittelgang der Kirche geführt hatte. Er sah die Bilder seltsam klar vor sich. Anne war schön wie ein Engel, eine Fee. In einem einfachen weißen Kleid, die Haare hochgesteckt mit weißen und hellroten Rosenknospen. Ihm war sofort klar, dass der Brautstrauß, den er ausgesucht hatte, viel zu groß und bunt war. Aber was spielte das für eine Rolle? In wenigen Minuten würde sie seine Frau werden. Einen Moment lang begegnete er Kelds Blick und spürte die Anerkennung. Er war willkommen. Schwiegervater . Ich werde auf sie aufpassen, versprach er dem groß gewachsenen, lächelnden
Mann in Gedanken. Und fügte noch zwei Sachen hinzu, die nicht zum Ehegelöbnis gehörten: Er wollte ihr alles geben, was sie sich wünschte, und sie gegen alles Böse auf dieser Welt beschützen.
Aber das will ich doch noch immer, dachte er und warf den Pass in die gepackte Reisetasche. Koste es, was es wolle.
Manchmal träumte Jučas von einer Familie. Von einer Mutter, einem Vater und zwei Kindern. Einem Jungen und einem Mädchen. In der Regel saßen sie gemeinsam am Tisch und aßen, was Mutter ihnen gekocht hatte. Sie wohnten in einem
Weitere Kostenlose Bücher