Die Lilie im Tal (German Edition)
mir sagte: ›Mutter, Sie sind gar nicht nett zu Felix!‹ – Das liebe Kind!«
Sie sah mich an unter den milden Strahlen der Sonne, die durch das Laubwerk glitten; und von Mitleid um unser zertrümmertes Glück ergriffen, versenkte sie sich in unsere so reine Vergangenheit und gab sich Betrachtungen hin, deren Glück ich mich nicht entziehen konnte. Wir griffen unsere Erinnerungen wieder auf, unsere Blicke streiften vom Tal zum Weinberg, von den Fenstern Clochegourdes nach Frapesle, wir banden träumend die duftenden Sträuße, die Gedichte unserer Wünsche. Das war ihre letzte Wollust, der sie sich mit der Reinheit einer christlichen Seele hingab. Es trat ein Schweigen ein, traurig und bedeutsam. Wir verfielen in tiefe Schwermut. Sie glaubte meinen Worten und sah sich dort, wo ich sie hinstellte: im Himmel.
»Mein Freund«, sagte sie, »ich gehorche Gott, denn in alledem verrät sich sein Wille.«
Erst später verstand ich den Sinn dieser Worte. Wir stiegen langsam die Terrasse hinauf, sie nahm meinen Arm, lehnte sich wehmütig darauf, ihre Wunden bluteten; aber sie blieb stark.
»So ist das menschliche Leben«, sagte sie. »Womit hat Monsieur de Mortsauf sein trauriges Geschick verdient? ... Das beweist uns das Vorhandensein eines besseren Lebens. Wehe denen, die sich darüber beklagen, den Weg der Tugend gegangen zu sein!«
Darauf erwog sie so folgerichtig den Wert des Lebens, betrachtete es so ernst von allen Seiten, daß ich aus diesen ruhigen Betrachtungen ersah, welch ein Ekel vor allen Dingen der Welt sie ergriffen hatte. Als wir auf der Freitreppe anlangten, ließ sie meinen Arm los und sagte dieses letzte Wort: »Wenn Gott uns Gefühl und Freude für das Glück gegeben hat, ist es dann nicht auch seine Pflicht, die unschuldigen Seelen zu belohnen, die hienieden nur Trübsal gefunden haben? Entweder ich habe recht, oder es gibt keinen Gott – und unser Leben ist weiter nichts als ein bittrer Schmerz.«
Bei diesen Worten eilte sie ins Haus, und ich fand sie auf dem Sofa liegend, als habe die Stimme sie niedergeschmettert, die den Apostel Paulus zu Boden warf.
»Was fehlt Ihnen?« fragte ich. »Ich weiß nicht mehr, was Tugend ist«, sagte sie, »ich bin mir meiner Tugend nicht mehr bewußt.«
Als ob wir beide versteinert wären, standen wir da und hörten auf den Klang des Wortes wie auf den eines Steines, der in einen Abgrund geworfen wird.
»Wenn ich mich in meinem Leben geirrt habe, so hat sie recht – sie!« rief sie aus.
So folgte ihr letzter Kampf ihrer letzten Wollust. Als der Comte kam, klagte sie, die sonst nie klagte. Ich beschwor sie, zu mir von ihren Schmerzen zu sprechen; aber sie weigerte sich und ging zu Bett, während ich als Beute ewig neuer Gewissensbisse zurückblieb. Madeleine begleitete ihre Mutter; und tags darauf erfuhr ich, daß die Comtesse starkes Erbrechen gehabt habe, was, wie sie sagte, auf die Aufregungen des Tages zurückzuführen sei. Ich, der ich mein Leben für sie hätte hingeben wollen, ich tötete sie!
»Lieber Comte«, sagte ich zu Monsieur de Mortsauf, der mich zu einer Partie Tricktrack nötigte, »ich halte die Comtesse für schwer krank. Es ist noch Zeit, sie zu retten. Rufen Sie Origet, und bitten Sie Ihre Frau, seine Ratschläge zu befolgen!« – »Origet, der mich an den Rand des Grabes gebracht hat?« unterbrach er mich. »Nein, nein; ich werde Carbonneau zu Rate ziehen.«
Während dieser Woche, besonders in den ersten Tagen, verwandelte sich alles für mich in Schmerz, ich hatte ein Gefühl wie von beginnender Herzlähmung, meine Eitelkeit und meine Seele wurden schwer verletzt. Man muß der Mittelpunkt aller Gefühle, der Blicke und der Seufzer, man muß das Lebensprinzip, der Lichtquell aller Menschen gewesen sein, wenn man das schreckliche Gefühl der Leere verstehen will, das mich befiel. Es war alles wie früher, aber der Geist, der es belebte, war erloschen wie eine ausgeblasene Flamme. Ich verstand, warum es für Liebende ein trauriger Zwang ist, sich nicht wiederzusehen, wenn einmal die Liebe verflogen ist. Nichts mehr bedeuten, wo man herrschte; von stummer Todeskälte, statt von freudvoll lebendigen Lebensstrahlen umgeben zu sein: die Vergleiche zwischen einst und jetzt drücken nieder. Bald sehnte ich mich zurück nach der schmerzlichen Freudlosigkeit, die meine Jugend verdüstert hatte: meine Verzweiflung wurde so tief, daß die Comtesse gerührt war. Eines Tages nach Tisch, während wir am Ufer entlanggingen, machte ich einen letzten
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