Die Lilie im Tal (German Edition)
»sie soll meine glücklichere Schwester sein. Ich verzeihe ihr die Schmerzen, die sie mir gebracht hat, wenn sie Ihnen das gibt, was Sie hier nicht finden durften und was ich Ihnen nicht mehr bieten kann. Sie haben recht gehabt: ich habe Ihnen nie gesagt, daß ich Sie liebte, und ich habe Sie nie geliebt, wie die Kinder dieser Welt lieben. Aber wenn sie nicht wahrhaft Mutter ist, wie kann sie lieben?« – »Liebe Heilige«, antwortete ich, »ich müßte weniger bewegt sein, als ich es bin, um dir zu erklären, daß du siegreich über ihr schwebst, daß sie ein irdisches Weib ist, eine Tochter gefallener Geschlechter, während du eine Tochter des Lichts bist, mein angebeteter Engel; dir gehört mein Herz, ihr mein Leib. Sie weiß es und ist verzweifelt; sie würde gern mit dir tauschen, sollte es sie auch das grausamste Opfer kosten. Aber alles steht unumstößlich fest: dir die Seele, dir die Gedanken, die reine Liebe, dir die Jugend und das Alter; ihr die Begierden und die Genüsse flüchtiger Leidenschaft. Dir mein ganzes Gedenken, ihr das tiefste Vergessen!« – »O sprechen Sie! Sagen Sie mir das immer wieder, lieber Freund!« Sie setzte sich auf eine Bank und brach in Tränen aus. »Tugend, Felix, heiliger Wandel, Mutterliebe – sind also doch kein Wahn! Oh, gießen Sie diesen Balsam auf meine Wunden! Wiederholen Sie dies Wort, das mich dem Himmel zurückgewinnt, wohin ich gleichen Fluges mit Ihnen streben wollte! Segnen Sie mich mit einem Blick, mit einem geweihten Wort, so will ich Ihnen die Schmerzen verzeihen, die ich seit zwei Monaten um Ihretwillen erduldet habe.« – »Henriette, es gibt Geheimnisse in unserm Leben, die Ihnen verschlossen sind. Ich bin Ihnen in einem Alter begegnet, wo das Gefühl noch den Drang unserer Natur zu unterdrücken vermag. Aber verschiedene Erlebnisse, deren Erinnerung mich noch in der Todesstunde erwärmen würde, müssen Ihnen bewiesen haben, daß es mit dem Alter zu Ende ging; Ihr steter Sieg war es, seine stummen Wonnen zu verlängern. Liebe ohne Besitz lebt von der äußersten Anspannung ihrer Sehnsucht; dann kommt ein Augenblick, wo alles in uns Schmerz ist, in uns, die wir Ihnen so wenig gleichen. Wir besitzen eine Macht, die sich nicht verleugnen läßt, wofern wir Männer sein wollen. Der Nahrung beraubt, die es stärken sollte, verzehrt sich das Herz selbst, es verfällt einer Erschlaffung, die nicht der Tod ist, ihm aber vorangeht. So läßt sich die Natur nicht länger um ihr Recht betrügen; beim geringsten Anlaß erwacht sie mit einer Heftigkeit, die dem Wahnsinn gleicht. – Nein, ich habe nicht geliebt, ich verdurstete mitten in der Wüste!« – »Der Wüste?« sagte sie bitter und wies auf das Tal hin; »und wie klug er zu reden weiß! Wieviel feine Unterschiede er macht! Die Treue ist nicht so geistreich.« – »Henriette«, bat ich, »streiten wir nicht wegen einiger gewagter Ausdrücke. Nein, meine Seele hat nicht gezweifelt, aber ich bin nicht Herr meiner Sinne gewesen. Jene Frau weiß wohl, daß du die einzige Geliebte bist. Sie spielt eine untergeordnete Rolle in meinem Leben, sie weiß es und fügt sich darein. Ich habe das Recht, sie zu verlassen wie eine Kurtisane!« – »Und dann? ...« – »Sie sagte, sie würde sich töten«, antwortete ich. Ich dachte, dieser Entschluß müßte Henriette überraschen; aber es glitt nur ein verächtliches Lächeln über ihre Züge, ein Lächeln, das noch ausdrucksvoller war als die Gedanken, die es verriet.
»Mein liebes Gewissen«, fuhr ich fort, »wenn du meinen Widerstand und die Macht der Versuchungen, die mich schließlich zu Falle brachten, bedenken wolltest, so verständest du diese verhängnisvolle ...« – »O ja – verhängnisvoll!« sagte sie. »Ich habe zu fest an Sie geglaubt; ich glaubte, Sie besäßen die Tugend des Priesters, die Tugend ... Monsieur de Mortsaufs!« Sie sagte das hart und ironisch. »Alles ist vorbei!« fuhr sie nach einer Pause fort. »Ich schulde Ihnen vieles, mein Freund, Sie haben in mir die Glut des körperlichen Lebens gelöscht, der schlimmste Teil des Weges ist zurückgelegt. Das Alter naht, nun bin ich leidend, fast kränklich. Ich könnte nicht für Sie die glänzende Fee sein, die das Füllhorn ihrer Gunst über den Glücklichen ausgießt. Seien Sie Lady Arabella treu! – Madeleine, die ich so gut für Sie erzog: wem wird sie nun gehören? Arme Madeleine! – Arme Madeleine!« klang es wie ein schmerzliches Echo nach. »Sie hätten sie hören müssen, wie sie
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