Die Lilie im Tal (German Edition)
die ich in mein Zimmer bringen wollte.
»Felix«, sagte die Comtesse, »Sie müssen wissen, das einstige Zimmer meiner Tante ist jetzt Madeleines Zimmer. Sie wohnen über dem Zimmer des Comte.«
Ich war schuldig, aber ich hatte ein Herz. Alle diese Worte waren Dolchstiche, die mich mit unbedingter Sicherheit an der empfindlichsten Stelle trafen. Seelische Leiden haben keine absolute Bedeutung; sie hängen ganz ab von der Feinheit der Seele, und die Comtesse hatte die ganze Reihe von Leiden schmerzlich durchlaufen. Aber aus ebendiesem Grunde wird auch die beste Frau um so grausamer sein, je gütiger sie gewesen ist. Ich sah sie an, aber sie neigte das Haupt. Ich ging in mein neues Zimmer, das freundlich in Weiß und Grün gehalten war. Dort brach ich in Tränen aus. Henriette hörte mich, kam und brachte mir einen Blumenstrauß.
»Henriette«, sagte ich, »sind Sie so weit, daß Sie den verzeihlichsten Fehler nicht entschuldigen können?« – »Nennen Sie mich nie mehr Henriette!« antwortete sie, »die arme Frau existiert nicht mehr. Aber Sie werden in Madame de Mortsauf eine treue Freundin finden, die Ihnen liebevolle Anteilnahme entgegenbringt. Felix, wir wollen später miteinander sprechen. Wenn Sie noch ein wenig Zärtlichkeit für mich bewahren, so warten Sie, bis ich mich wieder an Sie gewöhnt habe. Und sobald Worte mir das Herz weniger zerreißen, sobald ich wieder etwas Mut finde – ja, dann ... Sehen Sie dieses Tal«, sagte sie und zeigte auf die Indre, »sein Anblick schmerzt mich, ich liebe es noch immer.« – »Ach! Verderben über England und alle seine Frauen! Ich reiche mein Entlassungsgesuch beim König ein, ich sterbe hier mit Ihrer Absolution.« – »Nein! Lieben Sie diese Frau! Henriette existiert nicht mehr, und das ist kein leeres Gerede, Sie werden sehen.«
Sie zog sich zurück; der Ton ihrer letzten Worte enthüllte mir ihren abgründigen Schmerz. Ich stürzte hinaus, hielt sie fest und sagte: »Lieben Sie mich denn nicht mehr?« – »Sie haben mir mehr Leid zugefügt als alle andern zusammen. Heute leide ich weniger, also liebe ich Sie weniger. Aber nur in England sagt man: ›Weder nie noch immer!‹ Hier sagen wir: ›Immer!‹ Seien Sie vernünftig! Machen Sie meinen Schmerz nicht schlimmer, und wenn Sie leiden, denken Sie daran, daß ich lebe.«
Sie entzog mir ihre Hand, die kalt, bewegungslos, aber feucht in der meinen lag, und lief geschwind über den Flur, wo sich diese wahrhaft traurige Geschichte zugetragen hat. Bei Tisch bereitete mir der Comte ein Martyrium, das ich nicht geahnt hatte.
»Ist denn die Marquise Dudley nicht in Paris?« fragte er. Ich wurde blutrot und sagte: »Nein!« – »Ist sie nicht etwa in Tours?« fuhr der Comte fort. »Sie ist nicht geschieden; sie kann nach England reisen. Ihr Mann wäre sicher sehr glücklich, wenn sie zu ihm zurückkehrte«, antwortete ich eifrig. »Hat sie Kinder?« fragte Madame de Mortsauf mit völlig veränderter Stimme. »Zwei Söhne«, antwortete ich. »Wo sind sie?« – »In England, beim Vater.« – »Felix, seien Sie ehrlich! – Ist sie wirklich so schön, wie man behauptet?« – »Wie können Sie nur so eine Frage stellen?« rief die Comtesse aus. »Die Frau, die man liebt, ist immer die schönste von allen Frauen.« – »Ja, stets«, sagte ich stolz und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht aushielt. »Sie haben Glück! Ja, Sie sind ein beneidenswerter Schlingel! In meiner Jugend hätte mich eine derartige Eroberung verrückt gemacht.« – »Genug!« sagte Madame de Mortsauf mit einem Blick auf Madeleine. »Ich bin doch kein Kind!« rief der Comte, dem es Freude machte, sich wieder jung zu fühlen. Nach Tisch führte mich die Comtesse auf die Terrasse, und als wir allein dort waren, rief sie aus.: »Ist's möglich?! Gibt es Frauen, die ihre Kinder einem Manne opfern? Vermögen, gesellschaftliche Stellung – das verstehe ich. Vielleicht die Ewigkeit! Aber die Kinder! Sich seiner Kinder berauben!« – »Ja, und diese Frauen möchten noch mehr zu opfern haben, sie geben alles! ...«
Der Comtesse stürzte ihre Welt ein, ihre Gedanken verwirrten sich. Von dieser Großzügigkeit ergriffen, vermutete sie, daß das Glück ein solches Opfer rechtfertigen müsse; sie vernahm den Empörungsschrei ihres Fleisches und stand wie versteinert angesichts ihres verlorenen Lebens. Aber sie erhob sich groß und heilig, hochragenden Hauptes.
»So lieben Sie denn diese Frau wahrhaft, Felix!« sagte sie mit Tränen in den Augen,
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