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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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unvermutet zuschlägt und einem den Todeskampf erspart? Warum ist ein glückliches Leben, warum die Achtung aller dem Mörder beschieden, der tropfenweise Gift in die Seele träufelt und das Leben langsam untergräbt, ehe er es ganz vernichtet? Wieviel ungerächte Morde, wieviel Nachsicht für elegante Verbrechen, wieviel Freisprechungen für den Totschlag, der durch seelische Verfolgung verursacht wird! Ich weiß nicht, welche rächende Hand plötzlich den bemalten Vorhang hob, der die Gesellschaft verdeckt. Ich sah in Gedanken verschiedene der Opfer, die Ihnen ebenso bekannt sind wie mir: Madame de Beauséant, die wenige Tage vor meiner Abreise sterbend in die Normandie zurückreiste! Die Duchesse de Langeais, die arme Verratene! Lady Brandon, die in der Touraine ankam und dort in dem schlichten Hause starb, wo Lady Dudley zwei Wochen weilte, getötet, Sie wissen, durch welch schreckliche Katastrophe! Unsere Zeit ist reich an solchen Beispielen. Wer kennt nicht die arme junge Frau, die sich vergiftet hat, weil die Eifersucht sie zwang, die vielleicht auch Madame de Mortsauf tötete! Wen hat das Geschick des reizenden jungen Mädchens nicht bewegt, das gleich einer vom vergifteten Insekt zerstochenen Blume in zweijähriger Ehe zugrunde gegangen ist als Opfer ihrer keuschen Unwissenheit, als Opfer eines Elenden, dem Ronquerolles, Montriveau, de Marsay die Hand reichen, weil er ihren politischen Plänen dient! Wer hat nicht gezittert bei dem Bericht von den letzten Augenblicken jener Frau, die keine Bitte zu beugen vermochte und die nie ihren Mann hat wiedersehen wollen, nachdem sie großmütig seine Schulden bezahlt hatte? Hat Madame d'Aiglemont nicht den Tod von nahem gesehen, und würde sie ohne die Fürsorge meines Bruders noch leben? Welt und Wissenschaft sind Mitwisser der Verbrechen, für die es keinen Gerichtshof gibt. Es scheint, als stürbe niemand an Kummer, an Verzweiflung, an Liebe, an verborgenem Elend, an vergeblich gehegten Hoffnungen, die immer wieder gepflanzt und dann entwurzelt werden. Die moderne Namengebung hat raffinierte Bezeichnungen, um alles zu erklären, wie ›gastrisches Fieber‹, ›Herzbeutelentzündung‹ und die tausend Frauenleiden, deren Namen man sich ins Ohr flüstert; das sind Freibriefe für die Särge, die von erheuchelten Tränen begleitet werden, Tränen, welche die Hand des Notars gar bald abwischt. Liegt solchem Unglück ein Gesetz zugrunde, das wir nicht kennen? Muß der Hundertjährige notgedrungen den Erdboden mit Leichen besät und ihn ringsum verödet haben, um sich selbst so hoch zu erheben, wie der Millionär sich die Arbeit von einer Unzahl von Kleinindustrien zunutze macht? Gibt es ein starkes giftiges Lebensprinzip, das sanfte und zarte Geschöpfe verschlingt? Gott, gehörte denn auch ich zu dieser Tigerrasse? Reue umklammerte mein Herz mit ihren brennenden Fingern, und meine Wangen waren von Tränen überronnen, als ich in die Avenue von Clochegourde einbog an einem regnerischen Oktobermorgen, der das welke Pappellaub von den Bäumen ablöste, die auf Henriettes Geheiß gepflanzt worden waren. O diese Allee, wo sie mit dem Taschentuch, gewinkt hatte, als wolle sie mich zurückrufen! Lebte sie noch? Würde ich ihre beiden weißen Hände auf meinem gebeugten Haupte ruhen fühlen? In einer Sekunde zahlte ich all die Freuden ab, die mir Lady Arabella gespendet hatte, und fand sie teuer erkauft. Ich schwor, sie nie wiederzusehen, und faßte einen Haß gegen ganz England. Obwohl Lady Dudley nur eine Abart des Typus war, schloß ich alle Engländerinnen in mein finsteres Gericht ein.
    Als ich nach Clochegourde kam, erhielt ich einen neuen Schlag. Ich fand Jacques, Madeleine und den Abbé de Dominis am Fuß eines Holzkreuzes kniend, das in der Ecke eines Feldes stand und das bei der Anlegung eines neuen Gitters mit in die Umfriedigung hineingenommen worden war. Weder der Comte noch die Comtesse hatten das Kreuz entfernen wollen. Ich sprang aus meinem Wagen und eilte mit tränenüberströmtem Antlitz auf die Betenden zu; mein Herz stand still beim Anblick dieser beiden Kinder und des ernsten Geistlichen, die alle Gott anflehten. Der alte Vorreiter stand in einiger Entfernung mit entblößtem Haupt.
    »Nun?« sagte ich zum Abbé de Dominis, während ich Jacques und Madeleine auf die Stirn küßte. Sie warfen mir einen kalten Blick zu, ohne ihr Gebet zu unterbrechen.
    Der Abbé stand auf, ich stützte mich auf seinen Arm und fragte: »Lebt sie noch?« Er nickte bejahend

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