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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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voll sanfter Trauer. »Sprechen Sie, ich flehe Sie an, um unseres leidenden Heilandes willen! Warum beten Sie hier am Fuß des Kreuzes? Warum sind Sie nicht bei ihr? Warum sind die Kinder an einem so kalten Morgen draußen? Sagen Sie mir alles, damit ich nicht aus Unwissenheit ein Unglück anrichte!« – »Seit mehreren Tagen will die Comtesse ihre Kinder nur noch zu bestimmten Stunden sehen. Vielleicht«, fuhr er nach einer Pause fort, »sollten Sie einige Stunden warten, ehe Sie Madame de Mortsauf wiedersehen; sie ist sehr verändert! Aber man muß sie auf dieses Wiedersehen vorbereiten, Sie könnten ihre Schmerzen vermehren ... Der Tod – der Tod wäre eine Wohltat für sie.«
    Ich drückte die Hand dieses frommen Mannes, dessen Blick und Stimme fremde Wunden linderten, statt sie aufzureißen.
    »Wir beten hier alle für sie«, fuhr er fort, »denn sie, die Heilige, die Ergebene, die Todesbereite, empfindet seit einigen Tagen ein geheimes Grauen vor dem Tode; sie wirft auf alle, die von Leben strotzen, zum ersten Mal Blicke, die finstere Gefühle des Neides verraten. Ihr Delirium rührt, glaube ich, weniger von Todesfurcht her als von einem innern Taumel, von den welken Blüten ihrer Jugend, die gärend verdorren. Ja, der Böse ringt mit dem Himmel um diese schöne Seele. Die Comtesse kämpft ihren Kampf im Garten Gethsemane; sie weint über die weißen Rosen, die ihr Haupt – wie das einer andern Jephthastochter – umkränzten und die, eine nach der andern, zur Erde gesunken sind. Warten Sie, zeigen Sie sich noch nicht! Sie brächten für sie etwas vom Glanz des Hofes mit; auf Ihren Zügen würde sie einen Abglanz weltlicher Feste sehen und in erneute Klagen ausbrechen. Haben Sie Mitleid mit einer Schwäche, wie sie Gott selbst seinem menschgewordenen Sohne verziehen hat ... Was für ein Verdienst wäre es übrigens, ohne Gegner zu siegen? ... Erlauben Sie, daß ihr Beichtvater oder ich, zwei verfallene Greise, deren Anblick sie nicht schmerzt, daß wir sie auf die unerwartete Begegnung mit Ihnen und auf Erregungen vorbereiten, die ihr der Abbé Birotteau untersagt hatte. Aber in allen Dingen dieser Welt läßt sich eine göttliche Fügung nachweisen, ein frommes Auge erkennt sie; und wenn Sie hierhergekommen sind, so hat Sie vielleicht einer der himmlischen Sterne geleitet, die in der geistlichen Welt strahlen und die zum Grabe wie zur Krippe führen.«
    Er sagte mir, daß seit sechs Monaten die Leiden der Comtesse mit jedem Tage schlimmer würden, trotz der Bemühungen Origets. Zwei Monate lang war der Arzt jeden Abend nach Clochegourde gekommen, um dem Tod seine Beute zu entreißen; denn die Comtesse hatte gesagt: »Retten Sie mich!«
    »Aber um den Leib zu heilen, hätte man erst das Herz gesund machen müssen!« hatte eines Tages der alte Arzt ausgerufen.
    »Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto bitterer werden die Worte dieser sanften Frau«, sagte der Abbé de Dominis.

    »Sie schreit zur Erde, sie solle sie festhalten, statt zu Gott zu schreien, er möge sie zu sich nehmen. Dann bereut sie, gegen des Höchsten Beschlüsse gemurrt zu haben. Dieser Zwiespalt zerreißt ihr das Herz; es ist ein schrecklicher Kampf zwischen Fleisch und Geist, und oft siegt das Fleisch ... ›Ihr kommt mir teuer zu stehen‹, hat sie eines Tages zu Madeleine und Jacques gesagt und sie von ihrem Lager weggestoßen. Aber im selben Augenblick führte mein Anblick sie zu Gott zurück, und sie sagte Mademoiselle Madeleine diese Engelsworte: >Das Glück anderer wird die Freude derer, die selbst nicht mehr glücklich sein können‹ – und ihr Ton war so herzzerreißend, daß ich meine Augen feucht werden fühlte. Sie fällt, das ist wahr, aber nach jedem Fehltritt erhebt sie sich höher gen Himmel.«
    Ich war niedergeschlagen von all diesen Hiobsposten, die das Geschick mir sandte und die in dieser großen Leidenssymphonie durch schmerzliche Modulationen zum Trauerthema, zum Schrei der sterbenden Liebe hinführten; ich rief aus: »Glauben Sie, daß diese schöne, abgemähte Lilie im Himmel neu erblühen wird?« – »Sie haben sie noch als Blume hier verlassen«, antwortete er, »aber Sie werden sie wiederfinden – verzehrt, im Feuer der Leiden gereinigt und licht wie ein Diamant, der in der Asche vergraben ist. Ja, dieser leuchtende Geist, dieser himmlische Stern wird strahlend aus den Wolken hervortreten und ins Reich des Lichts eingehen.«
    Ich drückte diesem Gottesmann die Hand, mein Herz floß über von

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