Die Lilie im Tal (German Edition)
Dankbarkeit. Da streckte der Comte sein völlig weißes Haupt zum Fenster heraus. Er kam überrascht auf mich zugeeilt.
»Sie hat wahr gesprochen! Da ist er! – ›Felix, Felix, da kommt Felix!‹ hat Madame de Mortsauf geschrien ... Mein Freund«, sagte er mit schreckenswirrem Blick, »der Tod ist da. Warum hat er nicht einen alten Narren wie mich gepackt, den er doch schon verwüstet hatte?«
Ich ging auf das Schloß zu und raffte meine ganze Kraft zusammen. Aber auf der Schwelle des langen Flurs, der vom Rasenplatz durch das ganze Haus bis zur Freitreppe führte, paßte mich der Abbeé Birotteau ab: »Die Comtesse bittet Sie, ein wenig zu warten«, sagte er.
Ich blickte um mich und sah die Leute kommen und gehen, alle geschäftig, schmerztrunken und auch wohl überrascht über die Befehle, die Manette ihnen erteilte.
»Was gibt's?« fragte der Comte, über den Trubel erschreckt, einmal aus Furcht vor dem traurigen Ereignis, dann auch aus angeborener Ängstlichkeit. »Die Laune einer Kranken«, antwortete der Abbé. »Madame la Comtesse will Monsieur le Vicomte so nicht empfangen. Sie spricht von Toilette machen: wozu sich ihr widersetzen?«
Manette holte Madeleine, und wir sahen das junge Mädchen einige Augenblicke, nachdem sie eingetreten war, wieder herauskommen. Wir fünf, Jacques und sein Vater, die beiden Abbés und ich, gingen schweigend auf dem Rasenplatz auf und ab, am Haus entlang und noch weiter hinaus. Ich blickte nach Montbazon und Azay hinüber, sah das herbstliche Tal, dessen Trauergewand jetzt wie bei jeder Gelegenheit meinen innersten Gefühlen entsprach. Plötzlich bemerkte ich die liebe Kleine, die nach den letzten Herbstblumen suchte und sie pflückte, wahrscheinlich um Sträuße zu winden. Als ich bedachte, was diese Antwort auf meine Liebesbemühungen zu bedeuten habe, fühlte ich mich zutiefst erschüttert. Ich schwankte, mein Blick verschleierte sich, und die beiden Abbés, die neben mir her gingen, trugen mich an den Rand einer Terrasse, wo ich einige Augenblicke wie gebrochen, aber nicht völlig besinnungslos liegenblieb.
»Armer Felix!« sagte der Comte. »Sie hatte verboten, Ihnen zu schreiben. Sie weiß wohl, wie lieb Sie sie haben.«
Obwohl ich mich auf alles gefaßt gemacht hatte, war meine Kraft bei einer kleinen Aufmerksamkeit zusammengebrochen, die alle meine Glückserinnerungen zusammenfaßte.
›Da ist nun‹, dachte ich, ›diese Heide, dürr wie ein Skelett, von grauem Licht erhellt; in ihrer Mitte steht ein einsamer Blütenbusch, den ich früher auf meinen Gängen nicht ohne unheilahnendes Beben bewunderte.‹ – Das ist das Bild dieser düstern Stunde. Alles war unheimlich in dem ehemals so lebendigen, so heitern kleinen Herrensitz; alles weinte, alles zeugte von Verzweiflung und Verlassenheit. Die Alleen waren nur halb geharkt, die begonnenen Arbeiten waren liegengeblieben, die Arbeiter starrten nach dem Schlosse hin. Obwohl es Weinlesezeit war, hörte man weder Lärm noch Stimmengewirr; die Weinberge schienen leer zu stehen, so tief war das Schweigen. Wir gingen umher wie Menschen, deren Schmerz zu tief ist, als daß sie gleichgültige Worte sprächen; wir hörten dem Comte zu, dem einzigen, der zu reden vermochte. Nach wenigen Sätzen, welche die Gewohnheitsliebe zu seiner Frau ihm eingab, kam er bald, einem natürlichen Hange folgend, dahin, sich über die Comtesse zu beklagen: Seine Frau habe sich nie pflegen und nie auf seinen guten Rat hören wollen. Er habe zuerst die Symptome der Krankheit festgestellt, denn er habe sie an sich selbst studiert und bekämpft und sei ganz von selbst gesund geworden, ohne andere Hilfsmittel als gute Diät und Vermeidung jeder heftigen Erregung. Er hätte wohl auch die Comtesse heilen können, aber ein Ehemann dürfe solche Verantwortung nicht auf sich nehmen, besonders wenn er seine Erfahrung in jeder Hinsicht leider verschmäht sähe. Trotz seiner Vorstellungen habe die Comtesse Monsieur Origet kommen lassen; Origet, der ihn selbst seinerzeit so schlecht gepflegt habe, töte ihm jetzt seine Frau. Wenn diese Krankheit, wie man behaupte, durch übermäßige Sorgen verursacht sei, so hätte er viel mehr Grund, sie zu haben; denn was wären wohl die Sorgen seiner Frau? Die Comtesse sei glücklich und kenne weder Leid noch Schwierigkeiten. Die Vermögensverhältnisse seien dank seiner Bemühungen und seiner genialen Ideen durchaus befriedigend; auch lasse er Madame de Mortsauf in Clochegourde regieren. Seine Kinder seien
Weitere Kostenlose Bücher