Die Lilie im Tal (German Edition)
wohlerzogen und gesund und gäben keinerlei Grund mehr zu Beängstigungen ... Woher könne das Übel denn wohl kommen? – Und er diskutierte und äußerte abwechselnd tiefste Verzweiflung und lächerliche Beschuldigungen. Bald aber rief eine Erinnerung in ihm die Bewunderung wach, die seine edle Frau verdiente: ein paar Tränen quollen aus seinen Augen, die so lange trocken geblieben waren.
Madeleine brachte mir die Nachricht, daß ihre Mutter mich erwarte. Der Abbé Birotteau folgte mir. Das ernste junge Mädchen blieb bei ihrem Vater und sagte, die Comtesse wünsche mit mir allein zu sein, weil sie die Gegenwart mehrerer Personen zu sehr ermüden würde. Die Feierlichkeit dieses Augenblicks erzeugte in mir die Empfindung von innerer Glut und äußerer Kälte, die uns in den wichtigsten Augenblicken des Lebens niederdrückt. Der Abbé Birotteau, einer der Menschen, die Gott liebhat, die er mit Sanftmut und Einfalt, Geduld und Milde kleidet, nahm mich beiseite.
»Monsieur«, sagte er, »Sie müssen wissen, daß ich mein Menschenmögliches getan habe, um diese Zusammenkunft zu verhindern. Das Seelenheil dieser Heiligen verlangte es; ich habe nur an die Comtesse, nicht an Sie gedacht. Jetzt, wo Sie die Frau wiedersehen werden, zu der Ihnen der Zutritt von den Engeln hätte verwehrt werden sollen, jetzt werde ich mich zwischen Sie beide stellen, um Madame de Mortsauf gegen Sie und vielleicht gegen sich selbst zu verteidigen. Ehren Sie ihre Schwäche! Ich bitte Sie um Mitleid für sie, nicht als Priester, sondern als bescheidener Freund, von dem Sie nicht wußten und der Ihnen Gewissensbisse ersparen möchte. Unsere liebe Kranke stirbt tatsächlich vor Hunger und Durst. Seit heute morgen ist sie die Beute einer fieberischen Erregung, wie sie diesem schrecklichen Tode vorangeht, und ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß sie zäh am Leben hängt. Der Schrei ihres empörten Fleisches erstirbt in meinem Herzen, wo er ein sanftes Echo von früher weckt; aber Abbeé de Dominis und ich haben die heilige Pflicht übernommen, der edlen Familie das Schauspiel dieses Todeskampfes zu ersparen. Sie alle erkennen ihren Morgen- und Abendstern nicht mehr, der Gatte, die Kinder, die Diener – alle fragen: ›Wo ist sie?‹ – so sehr hat sie sich verändert. Bei Ihrem Anblick werden die Klagen von neuem beginnen. Unterdrücken Sie alle weltlichen Gedanken! Verzichten Sie auf die Eitelkeiten des Herzens! Seien Sie an der Comtesse Lager ein Bundesgenosse des Himmels! Diese Heilige darf nicht in einer Stunde des Zweifels sterben, mit Worten der Empörung auf den Lippen dahinscheiden.«
Ich antwortete nicht. Mein Schweigen beunruhigte den armen Beichtvater. Ich sah, ich hörte, ich ging – und war doch nicht mehr auf dieser Erde. Die Frage: ›Was ist denn geschehen?, Wie werde ich sie wiedersehen, da mich jedermann so vorsichtig vorbereitet?‹ – diese Frage weckte in mir doppelt grausame, weil unklare Befürchtungen; sie umfaßte die Gesamtheit meiner Schmerzen. Wir kamen an die Tür des Zimmers, die der Beichtvater ängstlich öffnete. Da sah ich nun Henriette in weißem Kleide, auf ihrem kleinen Sofa sitzend, vor dem Kamin, den zwei große Blumensträuße schmückten. Blumen auch auf dem Tischchen vor dem Fenster. Der grenzenlos erstaunte Ausdruck des Abbé Birotteau, als er diesen festlichen Schmuck und die Veränderung des Zimmers sah, das plötzlich sein früheres Aussehen wiedergewonnen hatte, ließ mich erraten, daß die Sterbende die ganze traurige Szenerie eines Krankenlagers aus ihrem Zimmer verbannt hatte. Sie hatte ihre letzte Lebenskraft aufgewendet, das unordentliche Zimmer instand zu setzen, um den würdig zu empfangen, den sie jetzt über alles liebte. In einer Flut von Spitzen erschien ihr abgemagertes Gesicht, das die grünliche Blässe einer Magnolienblüte hatte, wie auf einer gelben Leinwand die ersten Umrisse der Kreidezeichnung eines geliebten Antlitzes; aber um nachfühlen zu können, wie tief sich die Geierklaue in mein Herz einbohrte, müssen Sie sich in dieser Skizze die Augen völlig ausgeführt und voller Leben denken; es waren tiefliegende Augen, die in dem erloschenen Gesicht in ungewohntem Glanze leuchteten. Sie besaß nicht mehr die ruhige Majestät, die ihr sonst stets der über Leiden davongetragene Sieg verlieh. Ihre Stirn, der einzige Teil des Gesichts, der seine schöne Form bewahrt hatte, zeugte von kampflustiger Kühnheit und verhaltenen Drohungen. Trotz der Wachstöne ihres schmalen Gesichts
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