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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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gereicht wurde, zu seinen Füßen hinfallen ließ, warf er mir einen erdrückenden Blick tiefster Ironie zu, der zu sagen schien: ›Wenn du es in der Politik zu etwas bringen willst, so komme bald zurück. Halte dich nicht dabei auf, mit den Toten zu parlamentieren!‹ Der Duc winkte mir melancholisch mit der Hand zu. Die zwei pomphaften achtspännigen Karossen, die goldbetreßten Obersten, in große Staubwirbel gehüllt, rasten an mir vorbei, während die Menge ›Vive le roi!‹ rief. Es war mir, als sei der Hof über die Leiche Madame de Mortsaufs hinweggesprengt, mit der Gefühllosigkeit, welche die Natur für unser Unglück übrig hat. Obwohl der Duc ein trefflicher Mann war, würde er wahrscheinlich, nachdem der König sich zurückgezogen hatte, eine Partie Whist mit dem Bruder des Königs spielen. Und die Duchesse – hatte längst den ersten Schlag gegen die Tochter geführt, indem sie ihr als einzige von Lady Dudley sprach.
    Meine überstürzte Reise glich einem Traum, aber dem Traum eines glücklosen Spielers. Ich war verzweifelt darüber, keine Nachrichten erhalten zu haben. Hatte der Beichtvater die Strenge so weit getrieben, mir den Zutritt zu Clochegourde zu verweigern? Ich beschuldigte in meinem Innern Madeleine und Jacques, den Abbé de Dominis, alle, ja selbst Monsieur de Mortsauf. Hinter Tours, bei den Saint-Sauveur-Brücken, als ich den pappelgesäumten Weg nach Poncher einschlug, den ich früher auf meiner Suche nach meiner Unbekannten so sehr bewundert hatte, traf ich Monsieur Origet. Er erriet, daß ich nach Clochegourde ginge, ich, daß er von dort komme. Wir ließen jeder unsern Wagen halten und stiegen aus, ich, um Nachrichten einzuholen, er, um sie mir zu geben.
    »Nun, wie geht es Madame de Mortsauf?« fragte ich. »Ich glaube nicht, daß Sie sie noch am Leben finden«, antwortete er. »Sie stirbt eines schrecklichen Todes, sie verhungert! Als sie mich im verflossenen Juni rufen ließ, konnte schon keine Kunst mehr die Krankheit bekämpfen. Sie wies die schrecklichen Symptome auf, die Monsieur de Mortsauf Ihnen wohl geschildert hat, weil er sich einbildete, sie selbst zu haben. Die Comtesse stand damals nicht unter dem vorübergehenden Einfluß einer durch innere Kämpfe hervorgerufenen Erschütterung, die der Arzt leiten und zum Bessern wenden kann; auch litt sie nicht an einer eben erst einsetzenden Krise, die sich wieder gutmachen läßt; nein, die Krankheit war schon auf einem Punkte angelangt, wo alle Kunst umsonst ist. Ihr Zustand ist die unabwendbare Folge eines tiefen Kummers, wie eine tödliche Wunde die Folge eines Dolchstiches ist. Ihr jetziger Zustand ist durch die Lähmung eines Organs hervorgerufen, dessen Funktionen für das Leben ebenso unentbehrlich sind wie die des Herzens. Der Kummer hat wie ein Dolchstich gewirkt. Glauben Sie mir: Madame de Mortsauf stirbt an einer verborgenen Seelenqual!« – »An einer verborgenen ...?« sagte ich; »sind ihre Kinder nicht krank gewesen?« – »Nein«, sagte er und sah mich bedeutungsvoll an, »und seit ihr Leben ernstlich bedroht ist, hat Monsieur de Mortsauf sie nicht mehr gequält. Ich kann nichts mehr tun. Monsieur Deslandes aus Azay genügt; es gibt kein Heilmittel, und die Schmerzen sind furchtbar. Reich, jung und schön sein – und abgezehrt, vom Hunger gealtert sterben! Denn sie wird Hungers sterben. Seit vierzig Tagen ist ihr Magen wie verschlossen und weist jegliche Nahrung ab.«
    Monsieur Origet drückte die Hand, die ich ihm reichte. Er hatte sie mit fast respektvoller Gebärde gefordert.
    »Mut, Monsieur!« sagte er und wandte den Blick gen Himmel.

    Seine Worte drückten Mitleid aus für Leiden, die er mit mir zu teilen glaubte; er ahnte nicht, daß er mir Gift gereicht hatte. Ich eilte in meinen Wagen und versprach dem Kutscher ein gutes Trinkgeld, wenn er rechtzeitig ankäme.
    Trotz meiner Ungeduld glaubte ich den Weg in wenigen Minuten zurückzulegen, so sehr war ich in bittere Betrachtungen vertieft, die einander in meiner Seele jagten. Sie stirbt vor Kummer, und ihren Kindern geht es gut; sie stirbt durch meine Schuld! Mein strafendes Gewissen sprach mir die vernichtenden Urteile, die während des ganzen Lebens und manchmal darüber hinaus nachhallen. Welche Ohnmacht in der menschlichen Gerechtigkeit! Sie rächt nur offenkundige Vergehen. Weshalb trifft der Tod oder die Schmach den Mörder, der mit einem Schlage tötet, der uns großmütig im Schlafe überrascht und dem ewigen Schlummer überantwortet oder der

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