Die Lilie im Tal (German Edition)
sind, um mich die Frucht genießen zu lehren, die in unsern Felsen gereift ist; jetzt werden wir sie vielleicht zusammen genießen, ihre Wunder bestaunen, die Ströme von Liebe, die sie in die Seelen gießt, und jenen Saft, der verdorrende Blätter neu belebt. Dann lastet das Leben nicht mehr auf uns, es gehört uns nicht mehr. – Ach Gott, hören Sie mich nicht?« fuhr ich fort in der geheimnisvollen Sprache, mit der unsere religiöse Erziehung, uns vertraut gemacht hatte. »Sehen Sie doch, auf welchen Wegen wir einer zum andern geführt worden sind, welcher Magnet uns über den Ozean bitterer Gewässer zu einer Quelle süßen Wassers hingezogen hat, die am Fuß der Berge, über goldenem Sand, zwischen grünen, blühenden Ufern rieselt. Sind wir nicht, wie die Weisen, demselben Stern gefolgt? Hier stehen wir nun vor der Krippe, worin das himmlische Kind erwacht, das seine Lichtpfeile gegen die kahlen Bäume schleudern wird, das die Welt mit seinen fröhlichen Rufen erfüllen wird, das durch unversiegbare Freuden dem Leben Reiz, unsern Nächten Schlaf, unsern Tagen Seligkeit verleiht. Wer hat denn jedes Jahr neue Bande zwischen uns geknüpft? Sind wir einander nicht mehr denn Bruder und Schwester? Scheiden Sie nicht, was Gott zusammengefügt hat? Die Leiden, wovon Sie sprechen, sind der Samen, den der Säemann mit vollen Händen ausgestreut hat, damit die Saat keime, die schon der hellste Sonnenschein golden reift. – Oh, nicht wahr, wir wollen zusammen Halm um Halm pflücken? Welche Kraft ist in mir, daß ich so zu Ihnen zu sprechen wage? So antworten Sie mir doch? Eher werde ich die Indre nicht überschreiten!« – »Sie haben mich mit dem Wort ›Liebe‹ verschont«, unterbrach sie mich mit strenger Stimme, »aber Sie haben von einem Gefühl gesprochen, von dem ich nichts weiß und nichts wissen darf. Sie sind ein Kind. Ich will Ihnen noch einmal verzeihen, aber es ist das letzte Mal. Sie müssen wissen, daß mein Herz von Muttergefühlen wie berauscht ist. Ich liebe Monsieur de Mortsauf, nicht weil es meine gesellschaftliche Pflicht ist, noch aus Berechnung um der ewigen Seligkeit willen, sondern aus einem unwiderstehlichen Gefühl, das alle Fasern meines Herzens mit ihm verknüpft. War es denn Vergewaltigung, als ich ihn heiratete? Nein, ich heiratete ihn, weil ich mit Unglücklichen Mitleid habe. War es nicht die Pflicht der Frauen, die Leiden einer kritischen Zeit zu mildern, die zu trösten, die in die Bresche getreten und verwundet zurückgekehrt waren? Wie soll ich es Ihnen nur erklären? Ich habe ein gewisses egoistisches Gefühl der Befriedigung gehabt, als ich sah, daß Sie ihn zerstreuten. Ist das nicht ein ganz mütterliches Gefühl? Hat Sie mein Bekenntnis nicht belehrt, daß ich drei Kinder habe, denen ich mich nicht entziehen darf, für die ich wie lindernder Tau bin und denen ich Licht spenden muß, denen ich nichts von mir und meinen Gefühlen entziehen darf? Machen Sie die Milch einer Mutter nicht gerinnen! Die Gattin in mir ist unantastbar, aber sprechen Sie nicht mehr in dieser Weise mit mir! Sollten Sie dies so einfache Verbot nicht einhalten, so müßte ich Ihnen dieses Haus für immer verschließen. Ich glaubte an reine Freundschaften, an Wahlverwandtschaften, die lebensfähiger wären als die von der Natur uns auferlegten. Ich habe mich geirrt. Ich wünschte mir einen Freund, der kein Richter wäre, einen Freund, der mir in jenen Stunden zuhörte, da eine grollende Stimme tödlich ist, einen heiligen Freund, bei dem ich nichts zu fürchten hätte. Die Jugend ist edel, aufrichtig, opferfähig, selbstlos. Als ich Ihre Beharrlichkeit sah, glaubte ich an eine Fügung des Himmels. Ich hoffte eine Seele gefunden zu haben, die mir allein das wäre, was der Priester allen ist, ein Herz, in das ich den Überschwall meiner Leiden ergießen, in das ich meinen Schmerz hineinschreien könnte, sooft meine Qual unbezwinglich wäre und mich ersticken würde, wollte ich sie noch länger hinunterwürgen. So hätte mein Leben, das für diese Kinder so wertvoll ist, sich weiterfristen können bis zu dem Tage, wo Jacques erwachsen wäre. Aber dieser Wunsch ist reine Selbstsucht, die Laura Petrarcas läßt sich nicht noch einmal verwirklichen. Ich habe mich getäuscht. Gott will es nicht! Ich werde auf meinem Posten sterben müssen wie ein Soldat, ohne daß mir ein Freund hilft. Mein Beichtvater ist schroff, unerbittlich, und meine Tante lebt nicht mehr.«
Ich sah in einem Mondstrahl zwei schwere Tränen
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