Die Lilie im Tal (German Edition)
der bei mir so lange eine brachliegende Kraft gewesen war. Dem Priester gleich, der mit einem Schritt in ein neues Leben eintritt, war ich geweiht und durch ein Gelübde verbunden. Ein einfaches ›Ja, Madame‹ hatte mich verpflichtet, eine unwiderstehliche Liebe in meinem Herzen zu verschließen und niemals die Rechte der Freundschaft dazu zu mißbrauchen, um diese Frau allmählich, schrittweise zur Liebe hinüberzuleiten. Alle edeln Gefühle waren erwacht und tönten in sanft verschwommener Musik. Ehe ich in die Enge meines Zimmers zurückkehrte, wollte ich wollüstig den Anblick des sternübersäten Himmels genießen, in mir den Sang der verwundeten Taube hören, den schlichten Klang ihres unschuldigen Geständnisses, wollte mit der Luft die Ausstrahlungen ihrer Seele einsaugen, die alle mir gehören sollten. Wie groß mir diese Frau in ihrer völligen Aufopferung erschien, mit ihrer Religion des Mitleids für Verwundete, Schwache und Kranke, und ihrer Ergebenheit, die nicht die Fesseln des Gesetzes brauchte. So stand sie, verklärt, auf dem Scheiterhaufen der Heiligen und der Märtyrer. Ich bewunderte ihr Antlitz, das mich aus Dunkelheiten anstrahlte; da vermeinte ich plötzlich in ihren Worten einen neuen Sinn zu entdecken, eine geheimnisvolle Bedeutung, die sie mir völlig überirdisch erscheinen ließ. Vielleicht wünschte sie, daß ich für sie sei, was sie für ihre kleine Welt war; vielleicht wollte sie aus mir Kraft und Trost schöpfen und hob mich so in ihre Sphäre zu sich hinauf und höher noch. Die Sterne, sagen gewisse kühne Welterklärer, teilen sich so Bewegung und Licht mit. Dieser Gedanke hob mich in himmlische Höhen. Ich fand mich wieder im Himmel meiner früheren Träume und maß die Leiden meiner Jugend an dem unendlichen Glück, worin ich trieb.
Genien, die ihr von Schmerzen erdrückt wurdet, verkannte Herzen, ihr heiligen, namenlosen Clarissa Harlowes, ihr verstoßenen Kinder, unschuldig Geächtete, ihr alle, die ihr von der Wüstenseite ins Leben gelangt seid, die ihr überall kalten Blicken, verschlossenen Herzen, tauben Ohren begegnet seid – beklagt euch nie! Ihr allein könnt die Unendlichkeit der Wonnen ermessen, wenn sich euch ein Herz erschließt, ein Ohr euch lauscht, ein Blick euch antwortet! Ein einziger Tag löscht alle trüben Tage aus. Schmerzen, Grübeleien, Verzweiflung und Schwermut der Vergangenheit, die noch nicht vergessen sind, bedeuten ebenso viele Bande, die die Seele mit der Schwesterseele verknüpfen. Geschmückt mit unsern unverwelkten Wünschen, tritt eine Frau dann das Erbe verlorener Seufzer und Lieben an und gibt uns alle betrogenen Zärtlichkeiten vermehrt Zurück. Sie lehrt uns, frühere Kümmernisse als das Entgelt auszulegen, das das Geschick für die unendlichen Wonnen forderte, die sie uns am Tage der Seelenverlobung schenkt. Die Engel allein kennen den neuen Namen, der diese heilige Liebe bezeichnen könnte, und ihr allein, geliebte Märtyrer, werdet ermessen, was Madame de Mortsauf für mich, den Elenden, den Einsamen, plötzlich geworden war!
Diese Ereignisse spielten an einem Dienstag; ich wartete bis zum folgenden Sonntag, ehe ich wieder die Indre überschritt. Während jener fünf Tage hatten sich große Dinge in Clochegourde zugetragen. Der Comte erhielt den Titel ›Feldmarschall‹, den St.-Louis-Orden und eine Jahresrente von viertausend Francs. Der Duc de Lenoncourt-Givry, der zum Pair von Frankreich erhoben wurde, bekam zwei Wälder zurück, nahm sein Amt bei Hofe wieder auf, und seine Frau trat den Besitz der nicht verkauften Güter an, die ein Teil der kaiserlichen Krondomänen gewesen waren. So wurde die Comtesse de Mortsauf eine der reichsten Erbinnen in Maine. Ihre Mutter hatte ihr hunderttausend Francs gebracht, die sie von den Einkünften von Givry gespart hatte: es war der Betrag ihrer Mitgift, die nicht zur Auszahlung gelangt war und die der Comte trotz seiner Notlage nie erwähnt hatte. In äußern Lebensangelegenheiten zeigte sein Betragen die stolzeste Uneigennützigkeit. Wenn der Comte zu dieser Summe seine eigenen Ersparnisse legte, so konnte er sich zwei benachbarte Güter kaufen, die etwa neuntausend Francs Jahresrente abwarfen. Da sein Sohn dem Großvater in der Pairswürde folgen sollte, dachte er plötzlich daran, ihm ein Majorat einzurichten, das aus dem Territorialbesitz der beiden Familien bestände. Aber auch Madeleine sollte nicht zu kurz kommen. Das Ansehen des Duc de Lenoncourt würde ihr wahrscheinlich zu einer
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