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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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aus ihren Augen dringen und die Wangen hinabrollen. Aber ich streckte meine Hand schnell genug aus, um die Tränen aufzufangen, und trank sie mit der frommen Gier, die ihre Worte geschürt hatten, Worte, die zehn Jahre heimlichen Weinens, überreicher Empfindung, ständiger Sorge, ewiger Aufregung, die der höchste Heldenmut ihres Geschlechts bereits gezeichnet hatte. Sie sah mich mit einem Blick voll süßer Ergebenheit an.
    »Dies ist«, sagte ich ihr, »die erste, die heilige Kommunion der Liebe. Ja, ich habe Ihre Schmerzen miterlebt, bin mit Ihrer Seele eins geworden, wie wir mit Christus eins werden, wenn wir seinen heiligen Leib genießen. Ohne Hoffnung zu lieben ist doch noch ein Glück. Ach, welche Frau auf Erden könnte mir eine Wonne bereiten wie die, daß ich ihre Tränen schlürfte! Ich füge mich diesem Verbot, das für mich nichts als Tränen enthält, ich gebe mich Ihnen rückhaltlos hin und werde so sein, wie Sie mich wünschen.«
    Sie unterbrach mich und sagte mit ihrer tiefen Stimme: »Ich gehe auf den Vertrag ein, wenn Sie nie versuchen wollen, die Bande, die uns verknüpfen, enger zu schließen.« – »Ja«, sagte ich, »aber je weniger Sie mir gewähren, desto sicherer muß ich das wenige besitzen.« – »Sie fangen mit Mißtrauen an«, antwortete sie mit dem Ausdruck schwermütigen Zweifels. »Nein, vielmehr mit einem reinen Genuß. Hören Sie! Ich möchte Sie bei einem Namen nennen, der nur für uns beide gilt, so wie das Gefühl, das wir einander versprechen wollen.« – »Sie fordern viel«, sagte sie, »aber ich bin weniger kleinlich, als Sie glauben. Monsieur de Mortsauf nennt mich Blanche. Ein einziger Mensch auf der Welt, der, den ich am meisten geliebt habe, meine unvergeßliche Tante, nannte mich Henriette. Für Sie werde ich wieder Henriette sein.«
    Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Sie überließ sie mir, erfüllt von dem Vertrauen, das der Frau soviel Überlegenheit gibt und das uns niederdrückt. Sie lehnte sich gegen die Balustrade und sah hinab auf die Indre.
    »Tun Sie nicht unrecht, mein Freund«, sagte sie, »wenn Sie mit dem ersten Schritt gleich den ganzen Weg durchmessen wollen? Sie haben beim ersten Zug die Schale geleert, die,Ihnen arglos geboten wurde. Aber ein wahres Gefühl ist unteilbar, es muß ganz sein, oder es besteht nicht. Monsieur de Mortsauf«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, »ist vor allem ritterlich und stolz. Vielleicht versuchen Sie, seine Worte um meinetwillen zu vergessen; aber wenn er sich nicht erinnert, dann werde ich ihn schon morgen daran erinnern. Bleiben Sie einige Tage weg, er wird Sie dafür um so mehr schätzen! Nächsten Sonntag, nach der Kirche, wird er von selbst auf Sie zukommen. Ich kenne ihn, er wird sein Unrecht wieder gutmachen und Ihnen danken, daß Sie ihn wie einen für seine Taten und Worte verantwortlichen Menschen behandeln.« – »Fünf Tage, ohne Sie zu sehen, ohne Sie zu hören!« –»Legen Sie nie solche Wärme in die Worte, die Sie an mich richten«, sagte sie. Schweigend schritten wir zweimal die Terrasse auf und ab; dann sagte sie mir mit gebieterischem Tone, der bewies, daß sie von meiner Seele Besitz ergriff: »Es ist spät. Wir müssen uns trennen.« Ich wollte ihr die Hand küssen, sie zögerte, reichte sie mir und sagte mit bittender Stimme: »Nehmen Sie sie nur, wenn ich sie Ihnen gebe: lassen Sie mir mein Selbstbestimmungsrecht; sonst wäre ich Ihr Eigentum, und das darf nicht sein!« – »Leben Sie wohl!« sagte ich.
    Ich ging durch eine kleine Seitentür, die sie mir öffnete. Als ich sie gerade schließen wollte, öffnete sie sie wieder und reichte mir ihre Hand mit den Worten: »Sie sind heute abend wirklich sehr lieb gewesen; Sie haben mich getröstet und mir für die Zukunft Mut gemacht. Hier, mein Freund, hier.«
    Ich küßte ihre Hand zu wiederholten Malen, und als ich aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. Sie ging wieder die Terrasse hinauf und sah mir nach, während ich die Wiese durchschritt. Noch auf dem Wege nach Frapesle sah ich ihr weißes Kleid im Mondlicht, dann, einige Augenblicke später, war ihr Zimmer erleuchtet.
    ›O meine Henriette‹, sagte ich zu mir, ›dir sei die reinste Liebe geweiht, die je auf Erden gestrahlt hat!‹
    Ich gelangte endlich nach Frapesle. Auf dem Wege hatte ich mich bei jedem Schritte umgedreht. Nun fühlte ich eine unaussprechliche Seligkeit in mir. Eine glänzende Laufbahn eröffnete sich dem Aufopferungsdrang, der jedes junge Herz erfüllt und

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