Die Lilie im Tal (German Edition)
schmerzhaft zusammen: ›Sie liebt mich nicht‹, dachte ich. Um sie nicht in meinen Gedanken lesen zu lassen, küßte ich Madeleine aufs Haar. »Ich fürchte mich vor Ihrer Mutter«, sagte ich zur Comtesse, um die Unterhaltung wieder aufzunehmen. »Ich nicht minder«, antwortete sie mit der übermütigen Gebärde eines Kindes. »Aber vergessen Sie nicht, sie immer ›Madame la Duchesse‹ und in der dritten Person anzureden! Die heutige Jugend hat sich diese höflichen Formen abgewöhnt. Nehmen Sie sie wieder an! Tun Sie das für mich! Zudem ist es ein Zeichen von Bildung, die Frauen jeden Alters zu ehren und die bestehenden sozialen Unterschiede anzuerkennen, ohne sie in Frage zu stellen. Sind nicht die Ehrenbezeigungen, die Sie Höherstehenden erweisen, ein Unterpfand für die, die Ihnen zukommen? Alles greift in der Gesellschaft ineinander. Der Kardinal della Rovera und Raffael von Urbino waren zwei gleich geehrte Mächte. Sie haben in Ihren Schulen die Milch der Revolution eingesogen, und Ihre politischen Ideen mögen davon beeinflußt sein. Aber je weiter Sie sich im Leben umsehen, desto mehr werden Sie erkennen, wie wenig unklare Freiheitsideen die Völker beglücken. Ganz abgesehen davon, was ich als eine Lenoncourt vom Wesen der echten Aristokratie denke, sagt mir auch mein gesunder Bauernverstand, daß eine Gesellschaft nur auf hierarchischer Grundlage bestehen kann. Sie sind in einer Phase Ihres Lebens, wo Sie sich entscheiden müssen. Schlagen Sie sich zu Ihrer Partei! Besonders«, fügte sie lachend hinzu, »wenn sie die Oberhand hat.«
Ich war tief gerührt von diesen Worten, die politischen Scharfsinn unter warmer Freundschaft verbargen, Mischung, die den Frauen eine so große Überredungskraft verleiht. Sie verstehen es, die schneidigsten Beweisführungen in die Form einer Gefühlsäußerung zu kleiden. Es schien, als habe Henriette in ihrem Wunsch, alle Handlungen des Comte zu rechtfertigen, vorausgesehen, was für Betrachtungen ich anstellen würde, wenn ich zum erstenmal das Kriechertum des Comte durchschaute. Monsieur de Mortsauf, König in seinem Schlosse, umstrahlt von seinem historischen Glorienschein, war in meinen Augen ins Fabelhafte gewachsen, und ich muß gestehen, daß der Abstand, den er zwischen die Duchesse und sich legte, und seine fast aufdringliche Höflichkeit mich seltsam berührten. Auch der Sklave hat seine Eitelkeit; er will niemand als dem mächtigen Despoten gehorchen. Ich fühlte mich gewissermaßen gedemütigt durch die Selbsterniedrigung dessen, vor dem ich zitterte, weil er Herr über meine Liebe war. Diese Regung ließ mich die Qualen einer Frau erraten, deren große Seele mit der eines Mannes verkettet ist, dessen Gemeinheiten sie täglich vergraben muß. Achtung ist eine Schranke, die den Großen und den Kleinen in gleichem Maße schützt; jeder kann auf seiner Seite dem andern in die Augen sehen. Ich war ehrerbietig gegen die Duchesse, das verlangte meine Jugend; aber da, wo andere die Duchesse sahen, sah ich Henriettens Mutter, und ich legte in meine Hochachtung eine andächtige Ehrfurcht ... Wir traten in den großen Hof von Frapesle ein, wo die Gesellschaft vereinigt war. Der Comte de Mortsauf stellte mich freundlich der Duchesse vor, die mich mit kalten, ablehnenden Blicken maß. Madame de Lenoncourt war damals eine Frau von sechsundfünfzig Jahren, sehr vornehm, sehr gut erhalten. Als ich ihre stahlblauen Augen sah, ihre geäderten Schläfen, ihr hageres asketisches Gesicht, ihre hoheitsvolle aufrechte Gestalt, ihre spärlichen Bewegungen, ihren fahlweißen Teint, der sich bei ihrer Tochter so leuchtend wiederfand, da erkannte ich die kalte Rasse, der meine Mutter entstammte, mit ebender Sicherheit, womit ein Mineraloge schwedisches Eisen erkennt. Ihre Sprache war die des alten Hofes; sie sprach die Laute ›oit‹ wie ›ait‹ aus, sagte ›frait‹ statt ›froid‹, ›paiteux‹ statt ›poiteux‹. Ich war weder kriecherisch noch steif. Ich traf so ganz den richtigen Ton, daß die Comtesse auf dem Wege zur Vesper mir zuraunte; »Das haben Sie ganz vorzüglich gemacht!«
Der Comte kam auf mich zu, schüttelte mir die Hand und sagte: »Wir sind doch nicht böse, Felix? Wenn ich etwas zu lebhaft war, so müssen Sie das Ihrem alten Kameraden nachsehen. Wir werden wahrscheinlich zu Tisch hierbleiben und Sie dann auf Donnerstag, den Vorabend der Abreise der Duchesse, einladen. Ich reise in Geschäften nach Tours. Vergessen Sie Clochegourde nicht! Meine
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