Die Lilie im Tal (German Edition)
verständigen, wo Eingeweihte sich von der Menge sondern und sich gemeingültigen Regeln zum Trotz enger miteinander verbinden. Eines Tages stieg mir eine verwegene Hoffnung auf, die zu schnell zerrann – als auf die Frage des Comte, wovon wir sprächen, Henriette mit einem Doppelsinn antwortete, womit der Comte sich zufriedengab. Dieser unschuldige Scherz belustigte Madeleine und trieb ihrer Mutter das Rot in die.Wangen. Mit einem strengen Blick gab sie mir zu verstehen, daß sie mir ihre Seele entziehen könne, wie sie mir einst ihre Hand entzogen hatte, da sie eine unantastbare Gattin hatte bleiben wollen. Aber so viele Reize hat ein solcher Seelenbund, daß wir tags darauf von neuem begannen.
Die Stunden, die Tage, die Wochen flogen dahin und brachten immer neue Freuden. So kam die Zeit der Weinlese heran, die in der Touraine ein wahres Fest ist. Gegen Ende September erlaubte es die Sonne, die weniger heiß brennt als zur Erntezeit, sich in den Feldern aufzuhalten, ohne einen Sonnenbrand oder Müdigkeit fürchten zu müssen. Es ist leichter, Trauben abzuschneiden, als Getreide zu mähen. Die Früchte sind alle reif. Die Ernte ist eingeheimst, das Brot wird weniger teuer, und der Überfluß macht das Leben leicht. Schließlich sind die Befürchtungen wegen des unbestimmten Ergebnisses der Feldarbeit, die ebensoviel Geld wie Schweiß kostete, geschwunden: die Scheune ist gefüllt, und die Vorratskammern sind bereit, neue Schätze aufzunehmen. Da erscheint die Weinlese wie der fröhliche Nachtisch des Erntefestmahls. Der Himmel lächelt über dem stets prächtigen Herbst der Touraine. In diesem gastlichen Lande werden die Winzer im Hause freigehalten; und da diese Mahlzeiten die einzigen im Jahre sind, wo die armen Leute nahrhafte und gut zubereitete Speisen bekommen, halten sie daran fest, wie Kinder in patriarchalischen Familien an den hergebrachten Festtagen. Deshalb eilen sie in hellen Haufen in die Häuser, wo die Herrschaft sie freigebig bewirtet. So ist das Haus voll von Leuten und Vorräten. Die Keltern stehen beständig offen. Überall wimmelt es von Küfern, von Karren voll lachender Mädchen, von Leuten, die immerzu singen, weil sie bessern Lohn bekommen als sonst im Jahre. Dann ist noch ein Grund zur Freude da: alle trennenden Unterschiede sind aufgehoben, Frauen und Kinder, Herren und Knechte, alles beteiligt sich an der ›göttlichen Lese‹. Das Zusammentreffen all dieser Umstände erklärt die von Geschlecht zu Geschlecht vererbte Heiterkeit, die sich in den letzten schönen Herbsttagen entfaltet und die einst Rabelais die bacchische Form seines großen Werkes eingegeben hat. Nie hatten die kränklichen Kinder Jacques und Madeleine an einer Weinlese teilgenommen; mir ging es wie ihnen, und sie hatten eine kindliche Freude daran, ihre Aufregung geteilt zu sehen. Ihre Mutter hatte versprochen, mitzugehen. Wir waren nach Villaines gegangen, wo die in der Gegend gebräuchlichen Weinkörbe hergestellt werden, und hatten uns besonders hübsche bestellt. Wir vier sollten einige Reihen herbsten, die unsern Scheren vorbehalten blieben; aber es war abgemacht worden, daß wir nicht zu viele Trauben essen dürften. Die dicken Tourainer Trauben gleich in den Reben zu essen war so wonnig, daß man bei Tisch die schönsten liegenließ. Jacques ließ mich schwören, daß ich mir nirgends die Weinlese ansähe, sondern mich ausschließlich für den Weinberg von Clochegourde aufspare. Nie waren diese zwei kleinen, sonst so schwächlichen und blassen Wesen frischer, rosiger, tätiger, lebendiger als an diesem Morgen. Sie plauderten, nur um zu plaudern, sprangen hin und her, kamen und gingen ohne ersichtlichen Grund; nur daß sie, wie andere Kinder, ein Übermaß an Lebenslust auslassen wollten. Monsieur und Madame de Mortsauf hatten sie nie so gesehen, und ich wurde mit ihnen Kind, und vielleicht mehr Kind noch als sie, denn auch ich erhoffte meinen Lohn. Bei schönstem Wetter zogen wir in die Reben und blieben einen halben Tag. Wie wir darum stritten, wer die schönsten Trauben fände, wer seinen Korb am raschesten füllte! Es war ein beständiges Hinundherlaufen von den Weinstöcken zur Mutter; es wurde keine Traube gepflückt, die man ihr nicht zeigte. Sie schlug ein helles, jugendfrohes Lachen an, als ich schnell hinter ihrer Tochter herkam, ihr meinen Korb zeigte und mit Madeleines Worten fragte: »Und die meinen, Mama?« Sie antwortete: »Liebes Kind, erhitze dich nicht so sehr!« Dann führ sie mir mit der
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