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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Hand über den Nacken und durchs Haar, klopfte mir auf die Backen und fügte hinzu: »Du bist ja furchtbar heiß!«
    Es war das, einzige Mal, daß ich diese Liebkosung in der Stimme, das Du der Liebenden hörte. Ich sah hübsche, mit roten Früchten bedeckte Brombeerhecken, ich hörte das Schreien der Kinder, beobachtete die Schar der Winzer, die mit Fässern beladenen Karren, die mit Tragkörben bepackten Männer! ... Ach, ich prägte mir jede Einzelheit ein, bis herab zum jungen Mandelbaum, wo sie frisch, rosig und lachend unter dem aufgespannten Sonnenschirm stand. Dann machte ich mich daran, Trauben zu pflücken, meinen Korb zu füllen, ihn in den großen Bottich zu leeren mit einer stillen, anhaltenden Anspannung meiner Körperkräfte; ich hatte einen langsamen, gemessenen Gang, der meine Seele unbeschäftigt ließ. Ich kostete die unaussprechliche Freude einer körperlichen Arbeit, die das Leben in richtige Bahnen lenkt und den Lauf der Leidenschaften regelt, die ohne diese mechanische Bewegung nahe daran wären, alles in Brand zu stecken. Ich erfuhr, welch tiefe Weisheit in einer gleichförmigen Arbeit ruht, und verstand den Segen der Klosterregeln.
    Zum ersten Mal seit langer Zeit zeigte der Comte weder schlechte Laune noch Grausamkeit. Er war glücklich, seinen Sohn, den künftigen Duc de Lenoncourt-Mortsauf, gesund, weiß und rosig, mit Traubensaft beschmiert zu sehen. Da es der letzte Tag der Weinlese war, versprach der ›General‹ daß man am Abend zu Ehren der zurückgekehrten Bourbonen tanzen sollte. So war das Fest für alle vollkommen. Auf dem Rückwege nahm die Comtesse meinen Arm; sie stützte sich auf mich, so daß ich ihr Herz an meinem Herzen schlagen fühlte. Es trieb die Mutter, mir ihre Freude mitzuteilen, und leise flüsterte sie mir ins Ohr: »Sie bringen uns Glück!«
    Gewiß, für mich, der ich ihre schlaflosen Nächte, ihre Befürchtungen, ihr früheres Leben kannte, wo nur Gott sie aufrecht gehalten hatte und alles unfruchtbar und ermüdend gewesen war, für mich barg dieser von ihrer weichen Stimme beseelter Satz Wonnen, die keine Frau der Welt mir wieder geben konnte. »Die unglückselige Eintönigkeit meiner Tage hat aufgehört, das Leben wird durch Hoffnung schön«, sagte sie nach einer Pause. »Verlassen Sie mich nicht! Strafen Sie meinen unschuldigen Aberglauben nicht Lügen! Seien Sie der Älteste, der seinen Brüdern zur Vorsehung wird!«
    Sehen Sie hierin keine Überspanntheit, Natalie! Um in solchen Worten die Unendlichkeit tiefer Gefühle ermessen zu können, muß man in seiner Jugend die Sonde in die tiefen Seen gesenkt haben, an deren Ufern man lebte. Gewiß sind für viele Menschen die Leidenschaften Lavaströme, die ihr Bett ausdörren; aber gibt es nicht auch Seelen, in denen die durch unüberwindliche Hindernisse zurückgedämmte Leidenschaft den Krater des Vulkans mit klarem Wasser gefüllt hat?
    Wir feierten noch ein ähnliches Fest. Madame de Mortsauf wollte ihre Kinder mit praktischen Dingen vertraut machen und ihnen einen Einblick in die mühsame Arbeit geben, die zum Gelderwerb nötig ist. Sie hatte ihnen Einkünfte festgesetzt, die von den Wechselfällen des Landbaues abhingen: Jacques gehörte der Erlös der Nußbäume, Madeleine der der Kastanien. Wenige Tage nach der Weinlese wurden die Kastanien und die Nüsse geerntet. Madeleines Kastanien abschlagen, die Früchte fallen hören, die mit ihrem stachligen Pelz vom mattgrünen trockenen Samt des unfruchtbaren Geländes zurückprallten, den heiligen Ernst beobachten, womit das kleine Mädchen die Haufen untersuchte und abschätzte, die für sie Freuden darstellten, von denen sie niemandem Rechenschaft abzulegen brauchte; die Glückwünsche Manettes, der Wärterin, die allein der Comtesse bei der Pflege der Kinder half; die Lehren, die der Anblick der Mühen gab, ohne die sich auch nicht die geringste vom Witterungswechsel abhängige Frucht ernten läßt: all das gestaltete sich zu einem Schauspiel, worin die kindlichen Freuden von den ernsten Tönen des beginnenden Herbstes köstlich gerahmt waren. Madeleine hatte ihre eigenen Speicher, wo ich ihre braune Habe aufschichten sehen wollte, um an ihrer Freude teilzuhaben. Nun, es durchzuckt mich noch heute, wenn ich daran denke, wie die Früchte aus den Körben auf den mit Roßhaar und Lehm gestampften Boden rollten. Der Comte kaufte ihre Kastanien für den Hausgebrauch ab. Der Verwalter und alle Leute in der Umgebung von Clochegourde suchten Käufer für den

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