Die Lilie im Tal (German Edition)
›kleinen Liebling‹. Die Leute auf dem Lande sagen oft selbst zu einem Fremden so; aber hier wurde nur Madeleine ganz allein so genannt.
Jacques hatte weniger Glück mit der Nußernte. Es regnete mehrere Tage; aber ich tröstete ihn, indem ich ihm riet, seine Nüsse aufzubewahren, um sie etwas später zu verkaufen. Monsieur de Chessel hatte mir erzählt, daß die Nußbäume in Brehémont, in der Gegend von Amboise und von Vouvray schlecht trügen; und da Nußöl für die Touraine von großem Nutzen ist, so konnte Jacques von jedem Nußbaum einen Ertrag von mindestens vierzig Sous haben; ihm gehörten zweihundert Bäume, die Summe war also recht beträchtlich. Er wollte sich eine Reitausrüstung kaufen. Sein Plan führte zu einer Familiendebatte, wobei sein Vater mit ihm über die wechselnden Ertragsaussichten sprach und über die Notwendigkeit, Vorräte zu sammeln für die Jahre, wo die Bäume nicht tragen, um sich auf diese Weise eine Durchschnittseinnahme zu sichern. Ich erriet die Gedanken der Comtesse in ihrem Schweigen, Sie war glücklich, zu sehen, wie Jacques dem Vater lauschte, und wie der Comte, dank der frommen Lüge, die sie vorbereitet hatte, etwas von dem Ansehen wiedergewann, das er bei seinen Kindern eingebüßt hatte. Sagte ich Ihnen nicht, als ich diese Frau schilderte, daß irdische Worte die Züge ihres Wesens nicht wiederzugeben vermöchten? Wenn derartige Dinge sich ereignen, trinkt man das Glück, ohne es zu untersuchen. Aber mit welcher Klarheit heben sie sich später vom düstern Hintergrund eines bewegten Lebens ab; diamantengleich erstrahlen sie in einer Fassung, die zusammengeschmolzen ist aus dem Edelmetall der Erinnerung an entschwundene Glückseligkeiten und einer Beimischung schmerzlichen Bedauerns! Warum bewegen die Namen der beiden neu erworbenen Gebiete, die Monsieur und Madame de Mortsauf so sehr beschäftigten, La Cassine und La Rhétorière, meine Seele mehr als die schönsten Namen des Heiligen Landes oder Griechenlands? ›Wer liebt, der sage es!‹ hat Lafontaine ausgerufen. Diese Namen wirken auf mich wie Talismane, wie Beschwörungsformeln, sie machen mir die Magie verständlich, sie rufen schlafende Gestalten wach, die alsbald vor mir auftauchen und zu mir sprechen, sie versetzen mich zurück in das glückliche Tal, erschaffen den Himmel und die Landschaft. Haben denn nicht Beschwörungen stets etwas Übersinnliches gehabt? Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen so alltägliche Geschehnisse erzähle! Die geringsten Einzelheiten dieses schlichten und fast inhaltlosen Lebens waren gewissermaßen ebenso viele Glieder einer Kette, die, scheinbar schwach, mich immer fester an die Comtesse fesselten.
Die Vermögensverhältnisse ihrer Kinder machten Madame de Mortsauf ebensoviel Sorgen wie ihre Gesundheit. Ich erkannte bald, wie richtig sie ihren geheimen Einfluß auf die geschäftliche Lage des Hauses geschildert hatte; ich gewann allmählich einen Einblick in die Einzelheiten der hier üblichen Landbewirtschaftung, die ein Staatsmann kennen muß. Nach zehnjährigen Bemühungen war es der Comtesse gelungen, die ganze Art der Landbebauung zu ändern; sie hatte die sogenannte Vierjahreskoppelwirtschaft eingeführt, das ist die neue Landwirtschaftsmethode, nach der ein Feld nur alle vier Jahre mit derselben Frucht bestellt wird. So bleibt es fortwährend ertragsfähig. Um die Hartnäckigkeit der Bauern zu brechen, hatte man Pachtkontrakte auflösen, das ganze Gebiet in vier große Meiereien einteilen und sich dem in der Touraine und Umgebung gültigen Brauch der Viehpacht anpassen müssen, dem entsprechend der Erlös geteilt wird. Der Grundbesitzer stellt Wohnung, Wirtschaftsgebäude und Saaten freiwilligen Landarbeitern, mit denen er Auslagen und Einnahmen teilt. Diese Teilung untersteht einem Verwalter, dessen Sache es ist, die dem Gutsbesitzer zukommende Hälfte des Ertrags in Empfang zu nehmen. Dieses Verfahren ist kostspielig und umständlich wegen der Rechnungsführung, die immerzu, je nachdem, wie geteilt wird, wechselt. Die Comtesse hatte von Monsieur de Mortsauf ein fünftes Gut bebauen lassen, das aus den übrigen Landstücken in der Nachbarschaft von Clochegourde bestand. Der Comte sollte eine Beschäftigung haben und gleichzeitig anhand der Tatsachen seinen Halbpachtbauern den Vorzug der neuen Methode beweisen. Da sie die eigentliche Leiterin der Bewirtschaftung war, konnte sie nach und nach mit weiblicher Beharrlichkeit zwei ihrer Meiereien nach flandrischen und
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