Die Lilie im Tal (German Edition)
um ich selbst zu sein, zu beredt durch Sie, um sprechen zu können, zu begierig, den gegenwärtigen Augenblick auszunützen, um des verflossenen zu gedenken. Bitte, suchen Sie diese ständige Trunkenheit zu verstehen, damit Sie mir ihre Fehltritte verzeihen! In Ihrer Nähe kann ich nur empfinden. – Und doch, meine liebe Henriette, wage ich Ihnen zu sagen, daß in den vielen Freuden, die mir von Ihnen kamen, ich niemals Seligkeiten empfangen habe, die sich den Wonnen vergleichen ließen, die gestern meine Seele erfüllten, als nach dem schrecklichen Sturm, in dem Sie mit übermenschlicher Kraft gegen das Schlechte ankämpften, als Sie mir allein wiedergeschenkt wurden, mitten im Halbdunkel Ihres Zimmers, in das mich dieser unglückliche Auftritt führte. Ich allein weiß, wie leuchtend schön eine Frau sein kann, die von den Toren des Todes zum Leben zurückkehrt, während das Morgenrot einer Wiedergeburt ihre Stirn zart belebt. Wie wohltönend war Ihre Stimme! Wie klein erschienen mir Worte, selbst die Ihren, als sich mir in Ihrer angebeteten Stimme verschleiertes Erinnern an vergangene Leiden offenbarte, zugleich aber auch göttlicher Trost, der mich endlich beruhigte, als Sie mir dann Ihre ersten Gedanken schenkten. Ich hatte Sie schon im Glanz aller irdischen Pracht gesehen; aber gestern erschien mir eine neue Henriette, die mein eigen wäre, wenn Gott es erlaubte. Gestern erschien mir ein Wesen, frei von allen fleischlichen Fesseln, die uns hindern, das Feuer der Seele in seiner Reinheit zu unterhalten. Du warst sehr schön in Deiner Niedergeschlagenheit, sehr hoheitsvoll in Deiner Schwäche. Gestern habe ich etwas Schöneres entdeckt als Deine Schönheit, etwas Süßeres als Deine Stimme, etwas Leuchtenderes als das Licht Deiner Augen: Düfte, für die es keine Worte gibt! Gestern war mir Deine Seele sichtbar und greifbar. Ach, wie ich darunter litt, Dir mein Herz nicht erschließen zu können, damit Du daraus ein neues Leben schöpftest! Kurz, gestern habe ich die ehrfürchtige Scheu überwunden, die Du mir einflößest; hatte uns Deine Ohnmacht nicht einander nähergebracht? Da wußte ich, was es heißt, zu atmen, als ich mit Dir atmete, als Du nach der Krise wieder unsere Luft einsogst! Wie viele Gebete stiegen in diesem einen Augenblick zum Himmel! Wenn ich da nicht mein Leben gelassen habe, wo ich die weiten Räume durchmaß, um Gott zu bitten, daß er Dich mir erhalte – so stirbt man weder vor Freude noch vor Schmerz! Dieser Augenblick hat Erinnerungen in meine Seele eingesargt, die nie an der Oberfläche auftauchen werden, ohne daß sich meine Augen mit Tränen füllen; jede Freude wird ihre Spur verbreiten, jeder Schmerz sie vertiefen. Ja, die Herzensängste, die gestern meine Seele erregten, werden mir ein Maßstab für alle kommenden Leiden sein, wie die Freuden, die Du an mich verschwendet hast – Du lieber, ewiger Gehalt meines Lebens! –, alle Freuden überragen sollen, die mir aus Gottes Hand gespendet werden. Du hast mich die göttliche Liebe kennen gelehrt, die starke Liebe, die im Vollgefühl ihrer Kraft und ihrer Dauer weder Zweifel noch Eifersucht aufkommen läßt.‹
Tiefe Schwermut nagte an meiner Seele; der Anblick eines solchen Familienlebens war zerknirschend für ein junges Herz, das für alle menschlichen Eindrücke empfänglich ist. Bei meinem Eintritt in die Welt mußte ich einen bodenlosen Abgrund, ein totes Meer finden! Diese schreckliche Häufung von Mißgeschicken entführte mich in endlose Grübeleien. Bei meinem ersten Schritt ins gesellschaftliche Leben ward mir ein gewaltiger Maßstab an die Hand gegeben, an dem gemessen alle andern Tragödien klein erschienen. Meine Traurigkeit ließ Monsieur und Madame de Chessel darauf schließen, daß meine Liebe nicht erwidert werde, und so ward mir das Glück zuteil, meiner großen Henriette durch meine Leidenschaft in keiner Weise zu schaden.
Tags darauf, als ich in den Salon eintrat, fand ich sie dort allein. Sie sah mich eine Weile an, reichte mir die Hand und sagte: »Wird denn mein Freund immer zu zärtlich sein?« Ihre Augen wurden feucht, sie stand auf und sagte mir in verzweifelt flehendem Ton: »Schreiben Sie mir nicht mehr so!«
Monsieur de Mortsauf war zuvorkommend. Die Comtesse zeigte wieder ihren Mut und ihre heitere Stirn, aber ihre Blässe verriet die Leiden des gestrigen Tages, die wohl beschwichtigt, nicht aber geheilt waren. Als wir abends durch das dürre Herbstlaub gingen, das unter unsern Füßen raschelte,
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