Die Lilie im Tal (German Edition)
sagte sie: »Das Leid ist unendlich, die Freude hat ihre Grenzen«, ein Wort, das mir alle ihre Qualen verriet, die sie so mit flüchtigen Seligkeiten verglich. »Verleumden Sie das Leben nicht!« antwortete ich; »Sie kennen die Liebe nicht, und die Liebe hat Wollüste, die bis in den Himmel strahlen.« – »Schweigen Sie«, sagte sie, »ich will nichts davon wissen! Der Grönländer mußte in Italien sterben. Ich fühle mich in Ihrer Nähe ruhig und glücklich, ich kann Ihnen alle meine Gedanken aussprechen; zerstören Sie mein Vertrauen nicht! Warum sollten Sie nicht die Tugend des Priesters mit dem Zauber des freien Mannes verbinden können?« – »Ihnen zuliebe würde man den Schierlingsbecher leeren!« sagte ich und legte ihre Hand auf mein Herz, das in hastigen Schlägen klopfte. »Immer noch?!« rief sie und zog ihre Hand zurück, als hätte sie einen heftigen Schmerz empfunden. »Wollen Sie mir denn die traurige Freude entziehen, zu wissen, daß das Blut meiner Wunden von Freundeshand gestillt wird? Erschweren Sie meine Leiden nicht, Sie kennen sie nicht alle; die geheimsten sind am schwersten zu ertragen! Wenn Sie ein Weib wären, würden Sie die Mischung aus Schwermut und Ekel verstehen, der eine stolze Seele anheimfällt, wenn sie sich von zuvorkommenden Aufmerksamkeiten umringt sieht, die nichts wieder gutmachen und mit denen >man< alles wieder gutzumachen glaubt. Während einiger Tage wird >man< mir den Hof machen, wird >man< versuchen, Verzeihung für das begangene Unrecht zu erlangen. Bei solchen Gelegenheiten gewährte ›man‹ mir die unvernünftigsten Wünsche. Ich fühle mich gedemütigt durch seine Selbsterniedrigung, durch diese Liebkosungen, die mit dem Tage aufhören, wo ›man‹ sich einbildet, ich hätte alles vergessen. Die Huld seines Herrn nur dessen Fehlern zu verdanken ...« – »Seinen Verbrechen!« warf ich lebhaft ein. »... ist das nicht ein schreckliches Dasein?« sagte sie mit traurigem Lächeln. »Außerdem verstehe ich nicht, von meiner vorübergehenden Macht Gebrauch zu machen. Jetzt gleiche ich den Rittern, die ihren gefallenen Gegnern den entscheidenden Stoß nicht versetzen. Den im Staube liegen sehen, den wir ehren sollen, ihm aufhelfen, um neue Schläge von ihm zu bekommen, unter seinem Sturze mehr leiden als er selbst und sich entehrt fühlen, wenn man aus einem zeitweiligen Einfluß, und geschähe es auch zum Besten, Nutzen zieht, seine Kraft vergeuden, die Schätze seiner Seele in Kämpfen ohne Größe erschöpfen und nur dann herrschen, wenn man tödlich verwundet ist ... Der Tod wäre wünschenswerter. Wenn ich keine Kinder hätte, ließe ich mich reglos von diesem Leben treiben. Aber was würde aus ihnen ohne meinen verborgenen Mut? Für sie muß ich leben, wie schmerzhaft auch das Leben sei! Sie sprechen mir von Liebe ... aber mein Freund, so denken Sie doch an die Hölle, in die ich stürzte, wenn ich diesem Menschen, der wie alle Schwächlinge mitleidslos ist, das Recht gebe, mich zu verachten! Ich könnte den geringsten Verdacht nicht ertragen. Die Reinheit meines Wandels ist meine Kraft. Die Tugend, liebes Kind, kennt heilige Quellen, in denen man sich stählt und aus denen man neu gestärkt in Gottes Liebe emporsteigt.«
»Hören Sie mich, liebe Henriette, ich habe nur noch eine Woche hier zuzubringen; ich will, daß ...« – »Ach, Sie verlassen uns?« unterbrach sie mich. »Muß ich denn nicht wissen, was mein Vater mit mir vorhat? Es ist fast drei Monate her ...« – »Ich habe die Tage nicht gezählt«, antwortete sie schmelzend in frauenhafter Rührung. Sie faßte sich und sagte: »Wir wollen gehen – nach Frapesle zu.«
Sie rief den Comte, die Kinder, bat um ihren Schal. Dann, als alles bereit war, entfaltete sie, die sonst so Gemessene, Ruhige, die Lebendigkeit einer Pariserin, und wir brachen alle miteinander nach Frapesle auf, um dort einen Besuch zu machen, den die Comtesse nicht schuldig war. Sie mühte sich ab, eine Unterhaltung mit Madame de Chessel zu führen, die glücklicherweise in ihren Antworten sehr weitschweifig war. Der Comte und Monsieur de Chessel unterhielten sich über Geschäftliches. Ich fürchtete, Monsieur de Mortsauf möchte seinen Wagen und sein Gespann herausstreichen, aber er hielt sich durchaus in den Grenzen des guten Geschmacks. Sein Nachbar befragte ihn über die Arbeiten in der Cassine und der Rhétorière. Als ich die Frage hörte, sah ich zum Comte hinüber; ich dachte, er würde sich eines Gesprächsthemas
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