Die Lilie im Tal (German Edition)
ihr keine Sorgen, seien Sie ihr treu; erregen Sie ihre Eifersucht nicht! Geliebt und verstanden werden, Freund, ist das größte Glück! Ich hoffe, Sie werden es kosten. Hegen Sie sorgsam die Blüte Ihrer Seele, seien Sie des Herzens sicher, auf das Sie Ihre Liebe gründen! Diese Frau wird nie sich selbst gehören, sie wird nie an sich denken, sondern nur an Sie; sie wird Ihnen nichts streitig machen, nie auf ihre eigenen Vorteile bedacht sein, sie wird die Gefahr erkennen, wo Sie selbst keine sehen, die sie, drohte sie ihr allein, nicht sähe. Wenn sie leidet, wird sie leiden, ohne zu klagen. Persönliche Eitelkeit wird ihr fremd sein, aber sie wird eine Art Hochachtung für das haben, was Sie in ihr lieben. Erwidern Sie diese Liebe, indem Sie sie übertreffen! Wenn Sie das Glück haben, das zu finden, was Ihrer armen Freundin fehlt, eine Liebe, die gleich stark geschenkt und erwidert wird, so denken Sie daran – wie vollkommen diese Liebe auch sein mag –, daß in einem Tale für Sie eine Mutter lebt, in deren Herzen das Gefühl, das Sie hineingetragen haben, so tiefe Spuren eingegraben hat, daß Sie nie sie ganz ergründen können. Ja, ich hege für Sie eine Liebe, deren ganzen Umfang Sie nie kennen werden. Damit sie sich Ihnen offenbare als das, was sie ist, müßte Ihnen Ihr gesunder Sinn verlorengehen, und auch dann wüßten Sie nicht, wie weit meine Opferfähigkeit gehen könnte. Ist es verdächtig, wenn ich Ihnen rate, junge Frauen zu meiden, die alle mehr oder minder verschlagen, spöttisch, eitel, oberflächlich und verschwenderisch sind, und sich einflußreichen Frauen anzuschließen, an ehrwürdige Matronen voll gesunder Lebensweisheit, wie es meine Tante war, die Ihnen so nützlich sein können, die geheimen Verleumdungen gegen Sie die Spitze abbrechen und die von Ihnen sagen werden, was Sie selbst nicht von sich sagen können? Kurz, ich bin nicht großmütig, wenn ich Ihnen die Weisung gebe, Ihre andächtige Verehrung für den Engel mit dem reinen Herzen ungeteilt zu bewahren? Wenn ein großer Teil meiner ersten Ermahnungen in dem Worte ›Noblesse oblige!‹ zusammengefaßt ist, so sind meine Ratschläge über Ihre Beziehungen zu Frauen in dieser andern Ritterdevise enthalten: ›Diene allen, liebe nur eine!‹
Ihre Bildung ist umfassend, Ihr Herz ist in der Hut des Leidens makellos geblieben. Alles ist schön, alles ist edel an Ihnen, Sie müssen nur wollen . Ihre ganze Zukunft ruht jetzt in diesem einzigen Wort, dem Wahlspruch großer Männer: Nicht wahr, liebes Kind, Sie werden Ihrer Henriette gehorchen, Sie erlauben ihr, Ihnen auch weiterhin zu sagen, was sie von Ihnen und Ihren Beziehungen zur Welt denkt? Ich habe in meiner Seele einen besondern Sinn, der Ihre Zukunft wie die meiner Kinder voraussieht; lassen Sie mich von dieser Fähigkeit zu Ihrem Nutzen Gebrauch machen! Es ist eine geheimnisvolle Gabe, die ich meinem friedlichen Dasein verdanke und die, weit davon entfernt, schwächer zu werden, in der Einsamkeit und der Stille zunimmt. Zum Dank dafür bitte ich Sie, mir ein großes Glück zu schenken: ich will Sie unter den Menschen wachsen sehen, ohne daß ein einziger Ihrer Erfolge meine Stirn umwölke. Ich wünsche, daß Ihr Ruhm bald auf der Höhe Ihres Namens sei, und hoffe, mir einmal sagen zu können, daß ich anders und besser als durch den bloßen Wunsch zu Ihrer Größe beigetragen habe. Diese geheime Mitarbeit ist die einzige Freude, die ich mir erlauben darf. Ich werde warten. Ich sage Ihnen nicht Lebewohl. Wir sind getrennt, Sie können meine Hand nicht an Ihre Lippen führen, aber Sie müssen wohl geahnt haben, welchen Platz Sie einnehmen im Herzen
Ihrer Henriette.‹
Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, fühlte ich unter meinen Händen den Schlag eines Mutterherzens, während ich noch ganz vereist war vom strengen Empfang meiner Mutter. Ich erriet, weshalb mir die Comtesse das Lesen dieses Briefes in der Touraine untersagt hatte. Sie fürchtete wohl, mich vor ihr niederfallen zu sehen, um ihre Füße mit meinen Tränen zu netzen.
Endlich machte ich jetzt die Bekanntschaft meines Bruders Charles, der mir bis dahin ein Fremder gewesen war. Aber er legte in seinen geringsten Äußerungen zuviel entfremdenden Standesdünkel an den Tag, als daß brüderliche Herzlichkeit zwischen uns hätte aufkommen können. Gleichheit der Seelen ist die erste Vorbedingung inniger Gefühle, und zwischen uns gab es keinerlei Annäherungspunkte. Er lehrte mich mit pedantischer
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