Die Lilie im Tal (German Edition)
Schwerfälligkeit Kleinigkeiten, die Geist und Herz von selbst erraten. Bei jeder Gelegenheit bewies er mir ein gewisses Mißtrauen. Hätte ich nicht meine Liebe als Helferin gehabt, so hätte er mich linkisch und unbeholfen gemacht, weil er immer tat, als setzte er meine Unwissenheit voraus. Trotzdem führte er mich in die Gesellschaft ein, wo von meiner Einfältigkeit seine Gewandtheit sich vorteilhaft abheben sollte. Wäre ich nicht durch die trüben Erfahrungen meiner Jugend gewitzigt gewesen, so hätte ich seine Gönnereitelkeit als brüderliche Liebe auslegen können. Aber seelische Vereinsamung bringt dieselben Wirkungen hervor wie wirkliche Einsamkeit: die Stille schärft das Ohr für die leisesten Geräusche, und die Gewohnheit, immer wieder sich in sich selbst zurückzuziehen, bildet eine Empfindsamkeit heran, die in ihrer Feinheit die geringfügigsten Abarten unserer Eindrücke offenbart.
Ehe ich Madame de Mortsauf kannte, konnte mich ein harter Blick verletzen, ein rauhes Wort traf mich ins Herz, ich litt darunter, aber ohne die Wohltaten der Zärtlichkeit zu kennen. Seit meiner Rückkehr von Clochegourde konnte ich Vergleiche anstellen, die mein verfrühtes Wissen vervollständigten. Eine Beobachtungsweise, die sich nur auf erduldetes Leid stützt, ist unvollkommen. Auch das Glück hat seine Erleuchtungen. Ich ließ mich doppelt willig vom überlegenen Getue des ältern Bruders an die Wand drücken, weil er mich doch nicht beherrschen konnte.
Ich ging allein zur Duchesse de Lenoncourt. Aber ich hörte nicht von Henriette sprechen, außer vom guten alten Duc, der die Einfachheit selbst war. An der Art, wie er mich empfing, erriet ich, daß seine Tochter mich ihm unter der Hand anempfohlen hatte. Als ich gerade anfing, das kindliche Staunen, das die große Welt jedem Neuling einflößt, zu überwinden, als ich ihre Freuden zu ahnen und die Möglichkeiten zu erkennen begann, die sie den Ehrgeizigen bietet, während ich mir ein Vergnügen daraus machte, Henriettes Lehren in die Tat umzusetzen, und ich ihre tiefe Bedeutung einsah, da überraschten uns die Ereignisse des 20. März. Mein Bruder begleitete den Hof nach Gent; auf den Rat der Comtesse, mit der ich einen – wenigstens von meiner Seite aus – lebhaften Briefwechsel führte, folgte ich dem Duc de Lenoncourt in die Niederlande. Das übliche Wohlwollen des Duc steigerte sich bald zu herzlicher Gönnerschaft, als er sah, daß ich den Bourbonen mit Herz, Kopf und Hand ergeben war; er stellte mich selbst Seiner Majestät vor. Die Höflinge des Unglücks sind selten zahlreich; aber die Jugend kennt nur naive Bewunderung und nicht die berechnende Treue. Der König hatte Menschenkenntnis, und was in den Tuilerien unbeachtet geblieben wäre, fand in Gent große Beachtung. Ich hatte das Glück, Ludwig XVIII. zu gefallen. Durch einen Brief Madame de Mortsaufs an ihren Vater, der mit Depeschen von einem geheimen Boten aus der Vendée gebracht wurde und der auch ein Wörtchen an mich enthielt, erfuhr ich, daß Jacques krank sei. Monsieur de Mortsauf war verzweifelt, einmal über den schlechten Gesundheitszustand seines Sohnes, dann darüber, daß er an der zweiten Emigration nicht teilnehmen konnte. Er hatte einige Worte beigefügt, die mich die Lage der Geliebten erraten ließen. Wahrscheinlich wurde sie von ihm gequält, während sie ihre ganze Zeit am Krankenlager ihres Sohnes verbrachte, und fand Tag und Nacht keine Ruhe. Sie war zwar über diese kleinen Unarten erhaben, aber unfähig, sich ihrer mit Erfolg zu erwehren, solange sie sich mit ganzer Seele der Pflege ihres Kindes widmen mußte. Sie bedurfte des Freundes, der ihr das Leben erleichtert hatte, und wäre es auch nur zur Unterhaltung Monsieur de Mortsaufs. War ich doch oft mit dem Comte aufgebrochen, wenn er anfing, sie zu peinigen, und der Erfolg dieser, unschuldigen List hatte mir einige der Blicke eingetragen, die nichts als leidenschaftliche Dankbarkeit ausdrücken, worin die Liebe aber eine große Verheißung liest. Obwohl ich darauf brannte, in die Fußstapfen meines Bruders zu treten, der vor kurzem auf den Wiener Kongreß geschickt worden war, obwohl ich selbst unter Lebensgefahr Henriettes Voraussagen rechtfertigen und mich von der brüderlichen Oberhoheit befreien wollte, so verblaßten doch mein Ehrgeiz, meine Unabhängigkeitsgelüste, mein Interesse, das mich beim König festhielt, vor der Vorstellung ihrer Leiden, und ich beschloß, den Hof in Gent zu verlassen, um der wahren
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