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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Lebenslust und Jugend. Ich fand meine geliebte Lilie wieder, schöner, noch mehr erblüht, und ich fühlte, daß auch die Schätze in meinem Herzen gewachsen und vermehrt waren. Es ist der Fluch der kleinen Geister, der gemeinen Herzen, daß Abwesenheit die Gefühle schwächt, die Züge der Geliebten verwischt und ihre Schönheit vermindert. Für Menschen mit glühender Phantasie, bei denen die Begeisterung ins Blut übergeht und es mit Purpur färbt, bei denen die Leidenschaft Bestand hat – gleicht für die nicht Abwesenheit den Martern, die den Glauben der ersten Christen befestigten und sie Gott schauen ließ? Finden sich nicht in einem Herzen voll Liebe unendliche Begierden, die dem ersehnten Leibe noch höhere Schönheit verleihen, indem diese ihn in das Feuerbad glühender Träume taucht? Empfindet man nicht Erregungen, die den vergötterten Zügen ideale Schönheit verleihen, indem sie mehr und immer mehr in sie hineinlegen? Die Vergangenheit, die eine Erinnerung nach der andern wieder aufzeichnet, erweitert sich, die Zukunft wächst durch Hoffnungen. Zwischen zwei Herzen, die mit soviel Elektrizität geladen sind, wird ein erstes Wiedersehen gewissermaßen ein wohltuendes Gewitter, das die Erde neu belebt und befruchtet mit dem raschen Zucken des Blitzes. Welch köstliche Wonnen empfand ich, als ich merkte, daß wir beide diese Gedanken und Gefühle teilten! Mit entzücktem Blick verfolgte ich das Wachsen von Henriettes Glück. Eine Frau, die unter den Augen des Geliebten neu auflebt, gibt vielleicht einen größern Beweis von ihrer Liebe als die von einem Zweifel getötete oder als eine, die saftlos auf ihrem Stengel verdorrt. Ich weiß nicht, welche von ihnen am ergreifendsten ist ... Die Wiedergeburt Madame de Mortsaufs war so natürlich wie die Einwirkungen des Mais auf die Fluren, wie die der Sonne und des Wassers auf welke Blumen. Wie unser liebes Tal, so hatte Henriette ihren Winter gehabt und blühte im Lenz von neuem. Im Abendrot stiegen wir zu unserer lieben Terrasse hinunter: dort erzählte sie mir von ihren Nächten am Krankenlager, während sie den Kopf ihres armen Kindes streichelte, das so gebrechlich war wie nie und an der Seite seiner Mutter hinschlich, still, als hätte es die Krankheit noch nicht überwunden. Während dieser drei Monate, so sagte sie, hätte sie ein ganz innerliches Leben geführt. Sie hätte wie in einem düstern Palast gelebt und sich gescheut, in lichtstrahlende Prunkgemächer einzutreten, wo Feste, die ihr versagt waren, gefeiert wurden. Auf der Schwelle solcher Räume sei sie stehengeblieben, ein Auge auf ihr Kind gerichtet, das andere auf eine undeutliche Erscheinung, mit einem Ohr auf die Regungen des Schmerzes horchend, mit dem andern einer Stimme lauschend. Sie hätte Gedichte gemurmelt, die ihr die Einsamkeit eingegeben und wie sie nie ein Dichter ersonnen habe; aber das alles unbewußt, ohne zu ahnen, daß darin ein leiser Hauch von Liebe, ein Anflug wollüstigen Sinnens, orientalisch weiche Poesie lebte, gleich einer Rose von Frankistan. Als der Comte sich zu uns gesellte, fuhr sie im selben Ton fort, wie eine Frau, die stolz sein und ihrem Gatten unbeirrt in die Augen sehen und, ohne zu erröten, einen Kuß auf die Stirn ihres Sohnes drücken kann. Sie hatte viel gebetet, hatte nächtelang ihre gefalteten Hände über Jacques gehalten, um ihn dem Tode abzuringen.
    »Ich ging«, sagte sie, »bis an die Tore des Allerheiligsten und flehte zu Gott um sein Leben.«
    Sie hatte Visionen gehabt. Sie erzählte sie mir. Aber in dem Augenblick, als sie mit ihrer Engelsstimme diese wunderbaren Worte sprach: »Wenn ich schlief, wachte mein Herz«, da unterbrach sie der Comte: »Das heißt: Sie waren dreiviertel verrückt!«
    Sie schwieg, von heftigem Schmerz durchzuckt, als sei dies die erste Wunde, die man ihr schlage, als habe sie vergessen, daß dieser Mann seit dreizehn Jahren nie die Gelegenheit versäumt hatte, ihr Herz zu durchbohren. Sie glich einem edeln Vogel, der in seinem Fluge vom groben Schrotkorn getroffen wird; sie versank in dumpfe Niedergeschlagenheit.
    »Mein Gott«, sagte sie nach einer Pause, »wird denn niemals eins meiner Worte Gnade vor dem Richterstuhl Ihres Geistes finden? Werden Sie nie Nachsicht für meine Schwächen, Verständnis für meine Frauengedanken zeigen?«
    Sie hielt inne. Schon bereute der Engel sein Murren und maß mit einem Blick Vergangenheit und Zukunft ... Würde sie verstanden werden? Erreichte sie etwas anderes, als daß der

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