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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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größter Harmlosigkeit, aber nicht ohne die geheime Freude, die selbst die tugendhafteste Frau der Welt empfindet, wenn sie das neutrale Gebiet entdeckt, wo strenge Erfüllung ihrer Pflichten und Befriedigung ihrer uneingestandenen Wünsche sich treffen. Der Comte, durch die Krankheit unschädlich gemacht, lastete nicht mehr auf seiner Frau noch auf seinem Hause; da wurde die Comtesse sie selbst, sie hatte das Recht, sich mit mir zu beschäftigen und mir eine Menge kleiner Freundlichkeiten zu erweisen. Welche Wonne, als ich in ihr den halb unbewußten, doch reizvoll bekundeten Gedanken las, mir den ganzen Wert ihrer Persönlichkeit und ihrer Eigenschaften zu enthüllen, mich den Umschwung fühlen zu lassen, der in ihr vorging, sobald sie Verständnis fand. Die Blüte, die in der kalten Luft ihres Hauses verschlossen geblieben war, öffnete sich vor meinen Blicken – und nur für die meinen! Sie entfaltete sich mit demselben Maß von Freude, die ich selber, der arg Verliebte, bei ihrem Anblick empfand. Sie zeigte mir in den kleinsten Dingen des Lebens, wie gegenwärtig ich ihrer Seele war. An den Tagen, wo ich nach durchwachter Nacht bis zu später Stunde schlief, stand Henriette morgens vor allen andern als erste auf und ließ unbedingte Ruhe um mich her sein; ohne dazu aufgefordert zu sein, spielten Jacques und Madeleine in einiger Entfernung. Sie wandte tausend Listen an, um mir eigenhändig den Tisch decken zu können, und dann bediente sie mich mit einer sprudelnden Freude in allen Bewegungen, mit scheuer Schwalbenzartheit, mit hochroten Lippen, mit glühenden Wangen, einem Beben in der Stimme und mit luchsartigem Scharfblick.
    Können solche Seelenerregungen überhaupt geschildert werden? Oft war sie von Müdigkeit überwältigt; aber wenn es in diesen Augenblicken der Ermattung sich um mich handelte, fand sie für mich wie für ihre Kinder neue Kräfte und raffte sich dazu hurtig, lebhaft und fröhlich auf. Wie sie es liebte, ihre Zärtlichkeit auszugeben! Ja, liebe Natalie, manche Frauen auf Erden teilen die Vorzüge der Engel und verbreiten wie sie das Licht, von dem Saint-Martin, der ›unbekannte Philosoph‹, sagte, es sei gedanken-, klang- und duftreich. Meiner ehrenhaften Gesinnung sicher, hob Henriette bisweilen den schweren Vorhang, der uns die Zukunft verbarg, und ließ mich in ihr zwei Frauen erkennen: das gefesselte Weib, das mich trotz seiner Herbheiten bestrickt hatte – und das freie Weib, dessen Milde meiner Liebe ewige Dauer verleihen sollte. Madame de Mortsauf glich dem Paradiesvogel, der in das kalte Europa verbannt ist und traurig auf seiner Stange hockt, stumm und todesmatt im Käfig, worin der Zoologe ihn aufbewahrt. Henriette glich diesem Vogel, wie er seine heimatlichen Lieder in einem Hain am Ufer des Ganges singt und, einem lebendigen Edelstein gleich, von Ast zu Ast hüpft, zwischen den Rosen einer allzeit blühenden riesigen Volkameria. Ihre Schönheit wurde schöner, ihr Geist lebhafter. Dies beständige Freudenfeuer blieb zwischen unsern Seelen geheim, denn das Auge des Abbés von Dominis, unsers Zeugen vor der Außenwelt, war für Henriette gefährlicher als das Monsieur de Mortsaufs; aber sie fand, wie ich, große Freude daran, ihren Gedanken immer eine geschickte Wendung zu geben: sie verbarg ihre Freude im Scherz und deckte zudem ihre Zärtlichkeitsbezeigungen mit dem leuchtenden Banner der Dankbarkeit.
    »Wir haben Ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt, Felix! – Wir können ihm wohl die Freiheiten gestatten, die wir Jacques gewähren, Monsieur l'Abbé.«
    Der strenge Abbé antwortete mit dem freundlichen Lächeln des frommen Mannes, der in den Herzen liest und sie rein findet. Er hatte übrigens für die Comtesse die anbetende Verehrung, die man Engeln entgegenbringt. Zweimal in diesen fünfzig Tagen überschritt die Comtesse vielleicht in etwas die Grenzen, die unserer Freundschaft gesteckt waren; aber selbst diese beiden Ereignisse waren in einen Schleier gehüllt, der erst am Tage des großen Bekenntnisses gelüftet wurde. Ich erwartete sie eines Morgens zu Anfang der Krankheit des Comte, als sie gerade bereute, mich so streng behandelt und mir die unschuldigen Vorrechte entzogen zu haben, die meiner keuschen Zärtlichkeit eingeräumt waren; sie sollte mich ablösen. Von Müdigkeit übermannt, war ich, den Kopf an die Wand gelehnt, eingeschlafen. Ich erwachte plötzlich, als etwas Kühles meine Stirn berührte, das mir die Empfindung gab, als neige sich eine

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