Die Lilie im Tal (German Edition)
Art suchte sie des Gefühls, das uns verband, zu spotten und es dem Kranken zu opfern. »Henriette«, sagte ich, »legen Sie sich ein bißchen nieder; ich bitte Sie darum.« – »Nicht mehr Henriette!« unterbrach sie mich hastig und gebieterisch. – »Gehen Sie zur Ruhe, damit Sie nicht krank werden! Ihre Kinder, er selbst – gebieten Ihnen, sich zu pflegen. Es gibt Fälle, wo der Egoismus eine göttliche Tugend ist.« – »Ja«, sagte sie.
Sie entfernte sich und empfahl mir ihren Gemahl mit einer Geste, die beinahe wahnsinnig gewesen wäre, wenn nicht darin die Anmut der Kindheit, gepaart mit dem Flehen der Reue, gelegen hätte. Diese Szene, die, an ihrer sonstigen heiteren Seelenruhe gemessen, furchtbar schien, erschreckte mich. Ich fürchtete die Überreizung ihres Gewissens. Als der Arzt wiederkam, offenbarte ich ihm die Gewissensbisse eines verängstigten Hermelins, die die Seele meiner lichten Henriette gepackt hatten. Diese vertrauliche, aber sehr zurückhaltende Äußerung verscheuchte den Verdacht Monsieur Origets, und er beschwichtigte ihre schöne Seele, indem er ihr klarmachte, daß der Comte unter allen Umständen diese Krise hätte durchmachen müssen und daß sein Verhalten unter dem Nußbaum eher nützlich als schädlich gewesen sei, weil es der Krankheit zum Ausbruch verholfen habe.
Zweiundfünfzig Tage lang schwebte der Comte zwischen Leben und Tod; Henriette und ich wachten abwechselnd je sechsundzwanzig Nächte. Gewiß, Monsieur de Mortsauf verdankte seine Genesung unserer Pflege, der peinlichen Genauigkeit, mit der wir Monsieur Origets Befehle ausführten. Als wahrhaft philosophischer Arzt, den eine scharfe Beobachtungsgabe berechtigt, an edeln Handlungen zu zweifeln, wenn sie lediglich die Erfüllung einer Pflicht sind, konnte dieser Mann, der den heroischen Wettstreit zwischen der Comtesse und mir mit ansah, nicht umhin, uns mit durchdringenden Blicken zu beobachten, so sehr fürchtete er, seine Bewunderung sei unbegründet.
»In einer derartigen Krankheit«, sagte er mir bei seinem dritten Besuch, »kann der Tod durch eine Verschlimmerung des Gemütszustandes herbeigeführt werden, wenn das Seelenleben so völlig zerrüttet ist wie das des Comte. Der Arzt, die Pflegerin, alle, die den Kranken umgeben, haben sein Leben in ihren Händen, weil ein einziges Wort, eine Bewegung, die Herzensangst bekundet, so schädlich wirkt wie Gift.«
Während er so sprach, forschte er in meinem Gesicht und meinem Verhalten; aber er las in meinen Augen nur den klaren Ausdruck einer lauteren Seele. In der Tat, während der ganzen grausamen Krankheit erwachte in mir nicht der leiseste jener halb unbewußt schlechten Gedanken, die bisweilen das unschuldigste Gewissen beunruhigen. Für jeden, der die Natur als Ganzes betrachtet, zeigt sich in ihr der Hang zur Einheit auf dem Wege der Anpassung. Im Geistesleben muß ein entsprechendes Gesetz herrschen. In reiner Sphäre ist alles rein; bei Henriette atmete man Himmelsduft. Strafbare Wünsche verbannten jeden aus ihrer Nähe. So war sie nicht nur das Glück, sie war auch die Tugend. Als der Arzt uns immer gleich wachsam und besorgt fand, zeigte sich in seinen Worten und seinem Wesen eine gewisse milde Rührung; er schien sich zu sagen: ›Das sind die wahren Kranken, sie verbergen ihre Wunde und vergessen sie.‹ Die Veränderung in Monsieur de Mortsaufs Wesen war nach der Aussage dieses trefflichen Mannes bei gesundheitlich so heruntergekommenen Leuten etwas ziemlich Alltägliches. Der Comte war geduldig, folgsam, beklagte sich nie, zeigte die wunderbarste Fügsamkeit, er, der in gesunden Tagen nicht das geringste ohne Nörgelei tat. Der Grund dieser Unterwürfigkeit der Medizin gegenüber, die er früher geringgeachtet, war geheime Angst vor dem Tode: welch ein Widerspruch bei einem Manne von solch unleugbarer Tapferkeit! Diese Angst erklärt vielleicht auch manche Entgleisungen in seinem durch Leiden entstellten Wesen.
Soll ich's Ihnen gestehen, Natalie? Und werden Sie mir's glauben? Diese fünfzig Tage und der darauffolgende Monat waren die schönste Zeit meines Lebens. Ist die Liebe nicht für die Unendlichkeiten der Seele, was für ein schönes Tal der große Fluß ist, in den Regen, Flüßchen und Sturzbäche sich ergießen, in den Bäume und Blumen, Kieselsteine vom Ufer und ganze Felsblöcke stürzen? Gewitter verstärken ihn ebenso wie der langsame Tribut klarer Bäche. Dem, der wahrhaft liebt, wird alles Liebe. Nachdem die ersten großen Gefahren
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