Die Lilie im Tal (German Edition)
bisweilen beim Anblick dieses ausgemergelten blassen Greises, mit seiner Stirn, die vergilbter war als ein welkes Blatt, seinen farblosen Augen und zitternden Händen. Sie warf sich ihre Härte vor und widerstand nicht oft der Freude, die in den Augen des Comte aufleuchtete, wenn sie ihm seine Mahlzeiten etwas reichlicher bemaß, als es der Arzt erlaubt hatte. Sie zeigte sich übrigens in demselben Maße gütiger und liebenswürdiger zu ihm, als sie es mir gegenüber war; aber es gab doch Unterschiede, die mein Herz mit grenzenloser Freude erfüllten. Sie war aber keineswegs unermüdlich; sie verstand es, ihre Dienstboten zur Bedienung des Comte heranzuziehen, wenn dessen Launen zu schnell aufeinanderfolgten und er sich beklagte, nicht verstanden zu werden.
Die Comtesse wollte Gott ihre Dankbarkeit für die Wiederherstellung Monsieur de Mortsaufs zeigen. Sie ließ eine Messe lesen und bat mich, sie zur Kirche zu begleiten; ich führte sie hin, aber während der Messe besuchte ich Monsieur und Madame de Chessel. Als ich wiederkam, wollte sie mich tadeln.
»Henriette«, sagte ich, »ich bin einer Verstellung nicht fähig. Ich kann wohl ins Wasser springen, um meinen ertrinkenden Feind zu retten, ich kann ihm meinen Mantel geben, um ihn zu wärmen – kurz, ich könnte ihm verzeihen, aber nicht sein Unrecht vergessen.«
Sie schwieg und drückte meinen Arm an ihr Herz.
»Sie sind ein Engel! Sie meinten es gewiß ernst mit Ihren Danksagungen«, fuhr ich fort. »Die Mutter des ›Friedensfürsten‹ wurde aus den Händen des Pöbels, der sie töten wollte, gerettet. Auf die Frage der Königin: ›Was taten Sie?‹, antwortete jene: ›Ich betete für das Volk!‹ – So ist die Frau! Ich bin ein Mann – und naturgemäß unvollkommen.« – »Verleumden Sie sich nicht!« sagte sie, meinen Arm heftig schüttelnd, »vielleicht sind Sie besser als ich.« – »Ja«, entgegnete ich, »denn ich würde die Ewigkeit für einen einzigen Tag des Glückes opfern, und Sie! ...« – »... und ich?« sagte sie und blickte mich stolz an.
Ich schwieg und schlug die Augen nieder.
»Ich?« entgegnete sie, »von welchem Ich wollen Sie sprechen? Ich fühle viele Ich in mir. Diese beiden Kinder«, fügte sie, auf Madeleine und Jacques zeigend, hinzu, »sind solche Ich! Felix«, rief sie mit herzzerreißendem Ton, »halten Sie mich denn für selbstsüchtig? Glauben Sie, ich könnte eine ganze Ewigkeit opfern, nur um den zu belohnen, der mir sein Leben hingibt? Dieser Gedanke ist fürchterlich, er schlägt jedem religiösen Empfinden ins Gesicht. Könnte sich eine so tief gesunkene Frau je wieder aufrichten? Würde ihr Glück sie freisprechen? ... Ja, ich will Ihnen endlich mein innerstes Gewissen offenbaren: dieser Gedanke hat oft mein Herz durchbebt, ich habe ihn durch schwere Bußen gesühnt; er hat die Tränen verursacht, nach deren Grund Sie mich vorgestern fragten.« – »Messen Sie nicht, wie Frauen gemeinhin tun, gewissen Dingen zuviel Bedeutung bei? Sollten Sie nicht ...« – »Oho!« unterbrach sie mich, »nehmen Sie sie etwa leichter?«
Diese Logik schnitt jede weitere Beweisführung ab.
»Nun gut!« sagte sie. »Sie sollen es wissen: ja, ich wäre feige genug, diesen armen Greis, dessen Leben ich bin, zu verlassen; aber, lieber Freund, diese zwei schwächlichen kleinen Wesen, die da vor uns hergehen, Madeleine und Jacques, würden die nicht bei ihrem Vater bleiben? Und ich frage Sie: Glauben Sie etwa, daß die Kinder auch nur drei Monate unter der verrückten Aufsicht leben könnten? Wenn bei einem Verstoß gegen meine Pflichten es sich nur um mich handelte ...« Ein stolzes Lächeln glitt über ihre Züge. »Aber hieße es nicht, diese beiden Kinder töten? Ihr Untergang wäre unausbleiblich. – Ach Gott, warum reden wir von solchen Dingen? Heiraten Sie – und lassen Sie mich sterben!«
Diese Worte waren in einem so bitteren, tiefernsten Tone gesprochen, daß sie den Aufruhr meiner Leidenschaften erstickten.
»Sie haben da oben unter dem Nußbaum Ihren Schmerz hinausgeschrien, ich hier unter den Erlen – weiter nichts. In Zukunft werde ich schweigen!« – »Ihr Edelmut tötet mich!« sagte sie, die Blicke gen Himmel richtend.
Wir waren auf der Terrasse angelangt und fanden dort den Comte auf einem Sessel in der Sonne sitzend. Der Anblick dieses abgezehrten Gesichts, das kaum von einem schwachen Lächeln belebt wurde, erlöschte in mir die Flammen, die aus der Asche hervorgebrochen waren. Ich lehnte mich an das
Weitere Kostenlose Bücher