Die Lilie im Tal (German Edition)
Rose darauf. Ich sah die Comtesse drei Schritte vor mir stehen und hörte sie sagen: »Ich komme.«
Ich ging. Als ich ihr aber einen guten Morgen wünschte, fühlte ich, daß ihre Hand feucht war und zitterte.
»Leiden Sie?« fragte ich. »Warum fragen Sie mich das?« entgegnete sie. Ich sah sie an, errötend und verwirrt: »Ich habe geträumt ...«, antwortete ich.
Eines Abends, während eines der letzten Besuche Monsieur Origets, der mit Bestimmtheit von der Genesung gesprochen hatte, war ich mit Jacques und Madeleine unten an der Terrasse. Wir lagen alle drei auf den Stufen, ganz vertieft in unser Stäbchenspiel, das wir mit Strohhalmen und spitzen Haken ausführten. Monsieur de Mortsauf schlief. Während angespannt wurde, unterhielten sich der Arzt und die Comtesse leise im Salon. Monsieur Origet brach auf, ohne daß ich's bemerkte. Nachdem sie ihn zum Wagen begleitet hatte, lehnte Henriette an der Fensterbank, von wo aus sie uns wahrscheinlich eine Zeitlang, ohne daß wir's wußten, beobachtete. Es war einer der warmen Abende, an denen der Himmel kupferfarbene Töne annimmt und wo die tausend verworrenen Geräusche der Natur in der Ferne verhallen. Ein letzter Sonnenstrahl schmolz auf den Dächern, die Glöckchen der heimkehrenden Herden tönten von weitem herüber. Wir paßten uns dem Schweigen dieser lauen Stunde an, dämpften unsere Stimmen, um den Comte nicht zu wecken. Plötzlich hörte ich trotz des Raschelns ihres Kleides den Kehllaut eines gewaltsam unterdrückten Seufzers. Ich stürzte in den Salon, sah die Comtesse in der Fensternische sitzen, das Gesicht in ihr Taschentuch vergraben. Sie erkannte meinen Schritt und bedeutete mir mit einer gebieterischen Bewegung, daß sie allein bleiben wolle. Ich nahte mich mit angsterfülltem Herzen und wollte ihr das Taschentuch wegnehmen. Ihr Gesicht war in Tränen gebadet. Sie flüchtete in ihr Zimmer und erschien erst zum Abendgebet wieder. Zum ersten Mal seit fünfzig Tagen führte ich sie auf die Terrasse und fragte sie nach dem Grund ihrer Erregung. Aber sie heuchelte ausgelassene Fröhlichkeit, die sie mit Monsieur Origets Freudenbotschaft begründete.
»Henriette, Henriette!« sagte ich. »Sie kannten diese Botschaft schon, als Sie vorhin weinten. Zwischen uns beiden wäre eine Lüge eine Abscheulichkeit. Warum haben Sie mich gehindert, diese Tränen zu trocknen? Galten sie denn mir?« – »Ich überlegte mir«, sagte sie, »daß für mich diese Krankheit ein Ruhepunkt im Leiden gewesen sei. Jetzt, wo ich nicht mehr für Monsieur de Mortsauf zittere, muß ich für mich zittern.«
Sie hatte recht. Die Gesundheit des Comte kündete sich an durch die Wiederkehr seiner unmöglichen Launen. Er behauptete, daß weder seine Frau noch ich, noch der Arzt ihn zu pflegen verständen, daß wir alle über seine Krankheit und sein Wesen, seine Schmerzen und die geeigneten Heilmittel im unklaren seien. Origet, dem irgendeine Verrücktheit zu Kopf gestiegen sei, spräche von schlechten Säften, wo er sich doch nur um den Magenpförtner hätte kümmern sollen. Eines Tages sah er uns verschmitzt an, wie jemand, der uns durchschaut oder erraten hätte, und sagte lächelnd zu seiner Frau: »Nun, meine Liebe, wenn ich gestorben wäre, hätten Sie mir gewiß nachgetrauert. Aber gestehen Sie, Sie hätten sich getröstet.« – »Ich hätte Hoftrauer getragen, Rosa und Schwarz!« antwortete sie lachend, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Aber es entstanden heftige Szenen, besonders wegen der Speisen, die der Arzt weise bestimmte, ohne zu erlauben, daß man den Hunger des Rekonvaleszenten völlig befriedigte. Das Geschrei, das der Comte bei solchen Gelegenheiten anstellte, war schon in früheren Tagen unerhört gewesen, aber nun hatte sich seine Reizbarkeit noch verstärkt. Sie hatte gewissermaßen geschlummert. Die Comtesse stützte sich auf die Verordnungen des Arztes und den Gehorsam der Dienstboten. Ich bestärkte sie nachdrücklich darin, weil ich in diesem Kampf das Mittel sah, ihren Mann beherrschen zu lernen. So fand sie den Mut zum Widerstand, sie bot dem Wahnsinn und dem Geschrei eine klare Stirn; sie gewöhnte sich daran, den Comte für das zu nehmen, was er war, für einen Kindskopf, und seine Schmähungen ruhig anzuhören. Ich hatte das Glück, sie endlich die Leitung dieses kranken Verstandes an sich reißen zu sehen. Der Comte schrie, aber er gehorchte – und erst recht, wenn er viel geschrien hatte. Trotz dieser unzweifelhaften Erfolge weinte Henriette
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