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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Geländer und betrachtete dies Bild: den Sterbenden zwischen seinen beiden schwächlichen Kindern, seine bleiche Frau, abgemagert von der Überanstrengung der Wachen, der beständigen Angst und vielleicht auch von den Freuden dieser zwei schrecklichen Monate. Doch hatte die Erregung der soeben erlebten Szene ihre Wangen unnatürlich gerötet. Beim Anblick dieser leidenden Familie, die von zitterndem Laubwerk eingerahmt war, durch das das graue Lieht eines bewölkten Herbsthimmels rieselte, fühle ich in mir selbst sich die Bande lösen, die Leib und Seele zusammenhalten. Zum ersten Mal lernte ich den Spleen kennen, der, wie man sagt, die stärksten Kämpfer mitten im Gefecht ergreift, eine Art besonnener Verrücktheit, die aus dem Tapfersten einen Feigling, aus dem Ungläubigen einen Fanatiker macht, die uns gegen alles gleichgültig stimmt, selbst gegen die lebenskräftigsten Gefühle wie Ehre und Liebe; denn der Zweifel nimmt uns die Kenntnis unserer selbst und macht uns lebensüberdrüssig. Arme nervöse Geschöpfe, die euch der Reichtum eurer Natur rettungslos einem verhängnisvollen Geschick ausliefert – wo werdet ihr ebenbürtige Richter finden? Ich verstand, wieso der ehrgeizige Jüngling, der schon die Hand nach dem Feldherrnstab ausstreckte, der ein geschickter Diplomat und ein gleich furchtloser Krieger war, zum unschuldigen Mörder, wie ich ihn vor mir sah, hatte werden können. Konnte mein heute mit Rosen bekränztes Streben auch ein solches Ende finden? Entsetzt über die Ursache wie über die Wirkung, fragte ich mich wie der Ungläubige, wo denn da die Vorsehung bleibe; ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, die mir über die Wangen liefen.
    »Was hast du, mein guter Felix?« sagte Madeleine mit ihrer kindlichen Stimme.
    Und bald verscheuchte Henriette die schwarzen Nebel und Schatten mit einem teilnehmenden Blick, der sonnengleich in meine Seele strahlte. In diesem Augenblick brachte mir der alte Vorreiter einen Brief, dessen Anblick mir einen Ausruf des Staunens entlockte und der Madame de Mortsauf ihrerseits zittern machte. Ich erkannte das Kabinettssiegel, der König rief mich zurück. Ich reichte ihr den Brief, sie überflog ihn mit einem Blick.
    »Er verläßt uns«, sagte der Comte. »Was soll aus mir werden?« seufzte sie. Zum ersten Mal sah sie ihre Wüste ohne Sonnenschein vor sich liegen.
    Wir verharrten in einer gedankenlosen Stumpfheit, die uns alle gleichmäßig bedrückte; denn wir hatten nie so gut gefühlt, daß wir einander unentbehrlich seien. Die Comtesse hatte, selbst wenn sie von unwichtigen Dingen zu mir sprach, einen neuen Klang in der Stimme, als habe das Instrument einige Saiten verloren und als seien die ändern gelockert. Ihre Bewegungen waren apathisch, ihre Blicke glanzlos. Ich bat sie, mir ihre Gedanken anzuvertrauen.
    »Habe ich überhaupt welche?« sagte sie. Sie führte mich in ihr Zimmer, hieß mich auf dem Sofa Platz nehmen, durchsuchte eine Schublade ihres Waschtisches, ließ sich vor mir auf die Knie nieder und sagte: »Dies sind die Haare, die mir seit einem Jahre ausgefallen sind. Sie gehören in Wahrheit Ihnen; eines Tages werden Sie erfahren, wieso und warum.«
    Ich neigte mich langsam zu ihr nieder, sie bückte sich nicht, um meinen Lippen zu entgehen, die ich andächtig, ohne sündhafte Trunkenheit, ohne kitzelnde Wollustempfindung, aber mit feierlicher Rührung auf ihre Stirn preßte. Wollte sie alles opfern? Ging sie nur, wie ich es getan, bis an den Rand des Abgrunds? Hätte die Liebe sie gezwungen, sich mir zu ergeben, so hätte sie nicht diesen tiefen Frieden, diesen frommen Blick gewahrt, hätte mir nicht mit so klarer Stimme gesagt: »Sie zürnen mir doch nicht mehr?«
    Bei anbrechender Nacht reiste ich ab. Sie wollte mich ein Stück Weges begleiten. Unter dem Nußbaum blieben wir stehen. Ich zeigte ihn ihr und erinnerte sie daran, daß ich sie vor vier Jahren von hier aus entdeckt hatte.
    »Das Tal war damals sehr schön!« rief ich aus. »Und jetzt?« entgegnete sie lebhaft. »Sie stehen unter dem Nußbaum, und das Tal ist unser!«
    Sie beugte das Haupt, wir schieden.
    Sie stieg mit Madeleine in ihren Wagen, ich in meinen. – Nach Paris zurückgekehrt, wurde ich glücklicherweise durch dringende Arbeiten in Anspruch genommen, die mich gewaltsam ablenkten und mich zwangen, der Gesellschaft fernzubleiben, die mich auch bald vergaß. Ich wechselte Briefe mit Madame de Mortsauf, der ich allwöchentlich mein Tagebuch schickte und die mir zweimal

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