Die Lilie im Tal (German Edition)
überstanden waren, gewöhnten sich die Comtesse und ich an die Krankheit. Trotz der Unordnung, die die Pflege des Comte mit sich brachte, wurde sein Zimmer, das wir in so schlechtem Zustand vorgefunden hatten, allmählich sauber und wohnlich; bald kamen wir uns darin vor wie zwei Wesen, die auf eine einsame Insel verschlagen sind. Das Unglück vereinsamt nicht nur, es bringt auch die kleinlichen Vorurteile der Gesellschaft zum Schweigen. Zudem führte uns das Interesse des Kranken in vielen Punkten zusammen, wie das bei keinem andern Ereignis erlaubt gewesen wäre. Wie oft begegneten sich unsere ehedem so scheuen Hände bei der Pflege des Comte! Mußte ich nicht Henriette unterstützen, ihr helfen? Sie glich einem Soldaten, der auf Posten steht. Oft vergaß sie zu essen; dann bot ich ihr, manchmal auf ihren Knien, ein kleines Mahl dar, das sie eilig zu sich nahm und bei dem ich tausend kleine Dienstleistungen verrichtete. Sie ließ mich hurtig alle Vorkehrungen treffen, die dem Comte Schmerzen ersparen konnten, und übertrug mir tausend kleine Geschäfte. Anfangs, während die drohende Gefahr wie in der Schlacht die feinen Unterschiede verwischte, die im täglichen Umgang streng beachtet werden, legte sie notgedrungen die strenge Zurückhaltung ab, die jede Frau, selbst die natürlichste, in Gegenwart Fremder oder ihrer Familie in Worten, Blicken und in ihrem ganzen Verhalten wahrt, die aber nicht mehr am Platze scheint, sobald sie im Neglige ist. Kam sie nicht beim ersten Vogelgesang, mich abzulösen, in ihrem Morgengewande, das mir bisweilen erlaubte, die strahlende Pracht ihrer Schönheit zu erraten, die ich in wahnwitziger Hoffnung mein eigen wähnte? So hoheitsvoll und stolz sie war, mußte sie so nicht zutraulich werden? Während der ersten Tage nahm übrigens die Gefahr den Vertraulichkeiten unsers engen Zusammenseins so sehr jede erotische Nebenbedeutung, daß sie nichts Böses darin sah. Dann, als ihr die Überlegung kam, dachte sie vielleicht, daß es für sie und für mich eine Beleidigung wäre, wollte sie ihr Verhalten ändern. So verloren wir allmählich die Scheu, als wären wir halbwegs verheiratet. Sie brachte mir alles Vertrauen entgegen. Sie war meiner und ihrer selbst sicher. So drang ich immer tiefer in ihr Herz ein. Die Comtesse wurde wieder meine Henriette, eine Henriette, die sich genötigt sah, den mehr zu lieben, der ihre zweite Seele sein wollte. Bald brauchte ich nicht mehr auf ihre Hand zu warten, die dem leisesten flehenden Blick rückhaltlos gehorchte; ich konnte, ohne daß sie sich meinen Blicken entzog, trunken ihre schönen Linien bewundern während der langen Stunden, in denen wir den Schlaf des Comte bewachten. Die dürftigen Wollüste, die wir uns erlaubten, diese gerührten Blicke, diese Worte, die, um den Comte nicht zu wecken, halblaut geflüstert wurden, immer wieder auftauchende Hoffnungen und Befürchtungen, kurz, die tausend Erlebnisse dieses innigen Bundes zweier lange getrennter Herzen hoben sich leuchtend vom schmerzhaft düstern Hintergrund des Krankenzimmers ab. Wir lernten unsere Seelen bis auf den Grund kennen, in einer Prüfung, der oft die stärksten Neigungen nicht gewachsen sind, weil sie ständiges Zusammensein nicht ertragen können, weil sie zurückschrecken vor der steten Berührung, die das Leben schwer und leicht erscheinen läßt. Sie wissen, welches Durcheinander eine Erkrankung des Hausherrn zur Folge hat, wie alle Geschäfte unterbrochen werden, wie man für nichts mehr Zeit findet. Die Störung seiner Lebensfunktionen hemmt alle Bewegungen des Hauswesens und der Familie. Obwohl immer alles auf Madame de Mortsauf zurückfiel, war der Comte doch außerhalb des Hauses noch nützlich; er unterhandelte mit den Pächtern, ging zu den Geschäftsleuten und nahm die Gelder ein. Sie war die Seele des Hauses, er der Leib. Ich ließ mich zu ihrem Intendanten ernennen, damit sie den Comte pflegen könne, ohne daß die Dinge draußen entgleisten. Sie nahm alles ganz einfach, ohne Dank hin; und diese geteilten Sorgen um das Hauswesen, diese in ihrem Namen ausgerichteten Befehle bildeten ein neues zartes Band zwischen uns. Oft unterhielt ich mich abends in ihrem Zimmer mit ihr von ihren Geschäften und den Kindern. Diese Unterredungen gaben unserm Eintagsbund noch mehr den Schein der Wirklichkeit. Wie gern Henriette sich dareinfand, mich die Rolle ihres Mannes spielen zu lassen! Ich nahm seinen Platz bei Tisch ein, wurde zum Verwalter geschickt, und das alles in
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