Die Lilie im Tal (German Edition)
doppelt groß erscheinen, in tiefen Höhlen liegen wie bei einem Greis, und deren vorzeitig gereifter Ausdruck – traurige Prophezeiung! – mit seiner körperlichen Schwäche in Widerspruch steht. Wenn ich die hübsche Madeleine neben mir sehe, die sonst so lebhaft, einschmeichelnd und frisch, jetzt aber totenbleich ist, kommt es mir vor, als seien ihr Haar und ihre Augen verblaßt; sie wirft mir müde Blicke zu, als wollte sie Abschied von mir nehmen; keine Nahrung reizt sie, und wenn sie nach einer Speise verlangt, so erschreckt mich ihr seltsamer Geschmack. Das unschuldige Kind, das doch in meinem Herzen aufgewachsen ist, errötet, wenn es mir seine Wünsche anvertraut. Trotz meiner Bemühungen vermag ich meine Kinder nicht zu erheitern. Sie lächeln mir wohl zu, aber dies Lächeln wird ihnen nur durch meine freundliche Listen entlockt: es stammt nicht aus ihnen. Sie leiden darunter, meine Liebkosungen nicht erwidern zu können. Die Krankheit hat in ihrer Seele alles gelockert, selbst die Bande, die uns verknüpfen. Sie verstehen also, wie traurig Clochegourde ist: Monsieur de Mortsauf herrscht unumschränkt. – O mein Freund, mein Ruhm‹, schrieb sie weiter, ›Sie müssen mich wahrhaft liebhaben; um mich jetzt noch zu lieben, um mich, die Leblose, die Undankbare, die in Schmerzen Versteinerte, zu lieben! –‹
Damals, als ich mehr denn je im Innersten krank war, als ich ausschließlich in einer Seele lebte, der ich meine Tage zu weihen bestrebt war, von der lichtfrischen Brise des Morgens bis zur purpurnen Sehnsucht am Abend – damals traf ich in den Salons des Elysée Bourbon eine jener berühmten Ladies, die fast Königinnen sind. Gewaltige Reichtümer, die Abstammung von einer Familie, die sich seit den Zeiten des Eroberers rein von jeder Mischung erhalten hatte, die Ehe mit einem der hervorragendsten Greise der englischen Pairschaft – alle diese Vorzüge waren nur Zutaten, die die Schönheit dieser Dame, ihren Reiz, ihr Wesen, ihren Geist noch hoben; in ihrer Art war etwas, das mehr blendete als bestrickte. Sie war die Göttin des Tages und beherrschte die Pariser Gesellschaft, um so mehr, als sie die zu ihrem Erfolge nötigen Eigenschaften besaß, die Eisenhand in einem Samthandschuh, von der Bernadotte sprach. Sie kennen den seltsamen Charakter der Engländer, wie sie einen stolzen, unüberbrückbaren Meeresarm, einen kalten Kanal zwischen sich und die Fremden legen, die ihnen nicht vorgestellt sind. Für sie ist die Menschheit ein Ameisenhaufen, über den sie hinschreiten. Sie sehen ihresgleichen nur in den Leuten, die sie in ihrer Gesellschaft zulassen, die andern sprechen eine ihnen unverständliche Sprache: das sind wohl Lippen, die sich bewegen, und Augen, die sehen, aber weder Ton noch Blick erreicht sie. Es ist, als existierten diese Leute nicht für sie. So sind die Engländer gewissermaßen ein Bild ihrer Insel, wo das Gesetz alles regiert, wo alles in seiner Sphäre einförmig ist, wo die Ausübung von Tugenden nur das Ineinandergreifen von Rädern scheint, die zu bestimmten Stunden arbeiten. Um die englische Frau erheben sich glänzende Stahlgitter; sie ist eine Gefangene im Goldkäfig ihres Hauswesens, aber Futternapf und Trinknapf, die Käfigstange und die Nahrung sind Wunderwerke. Das alles gibt ihr einen unwiderstehlichen Reiz. Nie hat ein Volk der Scheinheiligkeit der verheirateten Frau besser vorgearbeitet als das englische, das sie bei jeder Gelegenheit zwischen Tod und gesellschaftliches Leben stellt; für sie gibt es zwischen Ehrlosigkeit und Ehre keine Abstufung; entweder ist das Vergehen vollständig oder überhaupt nicht, alles oder nichts – das ›Sein oder Nichtsein‹ Hamlets. Diese Alternative, verbunden mit der steten Geringschätzung, welche die Sitten ihr aufzwingen, macht die Engländerin zu einem in der Welt einzigartigen Wesen. Sie ist ein armes Geschöpf, das, der Not gehorchend, tugendhaft, aber bereit ist, sich wegzuwerfen, die in ihrem Herzen zu ewigen Lügen verdammt, aber äußerlich ganz entzückend ist, weil dieses Volk alles auf Äußerlichkeiten gibt. Daher die besondere Schönheit der Frauen dieses Landes: die Überspannung einer Zärtlichkeit, die für sie notgedrungen das Leben bedeutet, die übertriebene Pflege ihrer selbst, die Zartheit ihrer Liebe, die so anmutig in der berühmten Szene in ›Romeo und Julia‹ geschildert ist, wo das Genie Shakespeares mit einem Strich die englische Frau gemalt hat. Ihnen, die Sie englische Frauen um so vieles
Weitere Kostenlose Bücher