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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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schließlich die Vororte von Memphis. Doch es dauerte noch zwei Stunden, bis sich die große Zitadelle am Horizont abzeichnete. Sie war zwar nicht größer als die Ordensburg, aber selbst aus der Ferne sah man ihre goldenen Minarette, Kirchtürme und Paläste in den Himmel ragen. Und alles war von überwältigender Fülle und Schönheit.
    Sie mussten anhalten, weil sich der Verkehr staute. Einer der Korporale sah die staunenden Gesichter der Jungen und lenkte sein Pferd zu ihnen.
    »Auf der ganzen Welt gibt es keine größeren Stadtmauern, noch an der schmalsten Stelle sind sie fünfzehn Ellen dick und im Ganzen zweimal fünf Meilen lang.« Die Jungen sahen ihn an.
    »Das wären dann zehn Meilen«, sagte Kleist.
    Der Korporal machte ein langes Gesicht, dann gab er dem Pferd die Sporen.

ELFTES KAPITEL
    A uf den letzten zwei Meilen vor dem großen Stadttor von Memphis drängten sich Märkte aller Art. Der Lärm, die Gerüche und Farben sorgten bei den Jungen für helles Entzücken. Ein Reisender hätte ein solches Erlebnis sein Lebtag als Erinnerung bewahrt, aber für die Jungen, deren gewöhnliche Kost aus einem Kuchen namens »Eingeschlafene Füße« und hin und wieder etwas Rattenfleisch bestand, war dies das Himmelreich, nur unvorstellbar reicher und üppiger. Jeder neue Atemzug brachte ihnen den Geruch von Kumin und Rosmarin, dazu den Schweiß eines Hirten, der Ziegen verkaufte, das Mandarinenparfüm einer feinen Bürgersfrau, Uringestank und Rosenduft. Aus allen Richtungen drangen Lärm und Geschrei, das Kreischen der Papageien, das Miauen der Katzen, die bei Feinschmeckern hier als gesottene Memphiskatze besonders beliebt waren, das Gurren der Tauben, das Bellen der Hunde, die sich die Leute auf den Hügeln rings um die Stadt hielten, um sie an Feiertagen auf dem Grill zu rösten. Außerdem quiekende Schweine, muhende Kühe und dazwischen ein lautes Schreien, als ein Hecht, den ein Fischhändler gerade entschuppen und ausnehmen wollte, sich mit kühnem Sprung in einen Abwasserkanal rettete. Der Fischhändler gab seinem tragischen Verlust mit einem langen »Ohi!« Ausdruck, während die Menge ringsum in Gelächter verfiel.
    Weiter ging es, umgeben von den unverständlichen Rufen der Händler, »Kille, kille, Lenzchen!«, rief ein Mann, der in einem Kasten gehäutete Kuhschwänze, rosa wie Zuckerwatte, anbot. Ein anderer rief »Lecker, lecker, Grünebetter« und präsentierte seine Ware mit der Lässigkeit eines Zauberkünstlers, der ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert hat. »Isst mehr Frichte, Tomatas, Ananas. Kauft meine Gewürze, die Düfte aus Arabia.«
    Manche Marktstände nahmen dreißig Schritte im Geviert ein, an einer Ecke stand ein alter, in Lumpen gekleideter Mann und bot zwei gesprenkelte Eier feil.
    Vague Henri fiel zu seiner Linken ein Zug von vielleicht neun Jahre alten Jungen auf, die am Hals aneinandergekettet waren und von kräftigen Männern in Lederjacken bewacht wurden. Die Jungen gafften ungeniert und machten einen sorglosen Eindruck, doch was Henri beunruhigte, war die Tatsache, dass die Lippen der Jungen rot angemalt und ihre Augenlider blau geschminkt waren.
    Vague Henri wandte sich an einen Soldaten, der neben ihm ging. Er wies mit dem Kinn auf die Jungen und auf das grellbunte, von Menschentrauben umlagerte Gebäude, in dessen Richtung sich der Sklavenzug bewegte. »Was ist denn da los?«
    Der Soldat warf einen verächtlichen Blick auf die geschminkten Jungen.
    »Das da ist Kitty-Town. Geh da nicht hin.« Er sah Henri traurig an und sagte nach kurzem Schweigen: »Jedenfalls wenn du die Wahl hast.«
    »Und warum heißt es Kitty-Town?«
    »Weil Kitty der Hase der Chef von dem Ganzen ist. Genug der Fragen, nur eines noch, Kitty ist keine Frau und auch kein Hase. Bleib da weg.«

    Als sie dann vorbei an den Wachen in die eigentliche Stadt Memphis kamen, änderte sich das Bild schlagartig: Nach dem Tohuwabohu aus Lärm, Gerüchen und Menschengedränge passierten sie den dreißig Schritte langen kühlen Gang unter den Stadtmauern und traten am anderen Ende wieder ans Licht. Und das war eine andere Welt. Die Häuser, teils alte, teils neue, standen um Plätze mit Grünanlagen und Brunnen, wo Leute saßen und lasen oder sich in Gruppen unterhielten, während neben ihnen Kinder spielten. In diesem Bild einer eleganten und geschmackvollen Welt störte nur die Anwesenheit der drei Jungen, die schmutzig, müde und abgerissen aussahen. Nicht dass man sie ignorierte, man nahm sie gar nicht wahr. Nur

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