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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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die kleinen Kinder, alle mit blonden, lockigen Haaren, staunten sie hinter schmiedeeisernen Gittern neugierig an.
    Plötzlich ertönte lautes Hufgetrappel von den höher gelegenen Straßen, und eine Abteilung von zwanzig Leibgardisten in roten, goldgeschmückten Uniformen eskortierte eine herrschaftliche Kutsche auf den Platz. Sie steuerten direkt auf die Karawane zu und hielten vor dem Planwagen, in dem der bewusstlose Lord Vipond lag. Der breite Wagenschlag der Kutsche ging auf, und drei gewichtig wirkende Herren stiegen aus. Sie eilten zu dem Planwagen und verschwanden darin. Alle warteten in der kühlen Brise und im Schatten der Bäume, die den Platz säumten.
    Ein kleines, vielleicht fünfjähriges Mädchen kam, ohne dass ihre plaudernde Mutter es merkte, an den Zaun vor den Zöglingen.
    »He, du da, Junge.«
    Cale warf ihr einen betont unfreundlichen Blick zu.
    »Ja, genau du.«
    »Was denn?«
    »Du hast ja ein Gesicht wie ein Schwein.«
    »Verschwinde.«
    »Woher kommst du denn?«
    Er sah sie wieder an. »Aus der Hölle, um dich nachts zu holen und zu fressen.«
    Sie dachte über die Antwort nach. »Du siehst aber wie ein ganz gewöhnlicher Junge aus, nur schmutzig.«
    »Der Schein trügt«, erwiderte Cale.
    Nun schaltete sich Kleist ein.
    »Pass auf«, sagte er zu dem Mädchen. »Noch drei Nächte, dann brechen wir in dein Schlafzimmer ein, aber leise, damit deine Mutter uns nicht hört. Dann knebeln wir dich und fressen dich an Ort und Stelle auf. Wir lassen nur ein paar Knochen übrig.«
    Das Mädchen schien unsicher zu werden. Aber so leicht ließ es sich nicht ins Bockshorn jagen.
    »Mein Papa hilft mir und schlägt euch zu Brei.«
    »Dazu kommt es gar nicht, weil wir ihn nämlich auch auffressen. Wahrscheinlich sogar noch vor dir, damit du siehst, was dich erwartet.«
    Cale lachte laut los und schüttelte den Kopf über Kleists Spaß an der Neckerei.
    »Hör auf, sie zu reizen«, sagte er lächelnd. »Sie ist bestimmt eine Petze.«
    »Ich bin keine Petze«, entrüstete sich das Mädchen.
    »Du weißt ja gar nicht, was eine Petze ist«, setzte Kleist noch eins obendrauf.
    »Doch, das weiß ich.«
    »Klappe«, flüsterte Cale.
    Der Mutter war aufgefallen, dass ihr Töchterlein nicht mehr da war, und kam nun eilig herbei.
    »Komm her zu mir, Jemima.«
    »Ich rede doch bloß mit den schmutzigen Jungen.«
    »Still, du Fratz«, wies die Mutter sie zurecht. »Rede nicht so frech mit diesen unglücklichen Geschöpfen. Entschuldige dich bei ihnen, Jemima.«
    »Das mache ich nicht.«
    Die Mutter zog sie fort. »Dann bekommst du keinen Pudding zum Nachtisch!«
    »Und wir?«, rief Kleist. »Bekommen wir den Pudding?«
    Inzwischen hoben sechs Leibgardisten den bewusstlosen Kanzler Vipond aus dem Planwagen, gefolgt von den drei Männern mit ernsten Mienen. Der Kanzler wurde auf einer Bahre bis zur Kutsche getragen und behutsam hineingehoben. Kutsche und Eskorte verließen den Platz, dann setzte sich auch die Karawane wieder langsam in Marsch.
    Nach drei Stunden hatten sie die Festung erreicht, wo sie in die Zellen gebracht, entkleidet, durchsucht und mit kaltem Wasser, das nach ihnen unbekannten Chemikalien roch, abgeduscht wurden. Dann gab man ihnen ihre, mit einem kratzigen weißen Pulver behandelten Kleider zurück und steckte sie wieder in die Zellen. Eine halbe Stunde lang saßen sie schweigend, bis Kleist seufzend die Bemerkung machte: »Wer hatte eigentlich diese Idee? Ach ja, Cale, habe ich beinahe vergessen.«
    »Der Unterschied zwischen hier und der Ordensburg«, erwiderte Cale müde, als interessierte ihn eine Antwort eigentlich gar nicht, »besteht doch darin, dass wir hier nicht wissen, was mit uns geschehen wird. Wären wir wieder dort, wüssten wir, was uns erwartet, und Schmerzensschreie gehörten dazu.« Dem war nichts entgegenzusetzen, und so schwiegen sie wieder und waren bald alle eingeschlafen.
    Drei Tage lang war Lord Vipond dem Tode näher als dem Leben. Man flößte ihm Arzneien ein, brannte Tag und Nacht Duftkräuter in seiner Nähe ab, bestrich seine Wunden mit Salben und Tinkturen. Jede neue Behandlung blieb ohne Erfolg oder schadete ihm sogar, und bei allen Bemühungen der besten Ärzte aus ganz Memphis hielt er nur dank seiner Lebenskraft und robusten Gesundheit durch. Als seine Verwandten schon auf das Schlimmste eingestimmt wurden – oder aus ihrer Sicht als Erben auf das Beste -, erwachte Vipond aus seiner Bewusstlosigkeit und bat mit krächzender Stimme, die Fenster zu öffnen, die

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