Die linke Hand Gottes
Verletzung an meinem Kopf zu vermessen und sie mit Schädeln zu vergleichen, die er sich von Friedhöfen beschafft hatte. Er fertigte Tonmodelle an und versuchte dann ein halbes Jahr lang, mein Schicksal an anderen zu wiederholen.«
»Ich kann nicht folgen. Wie das?«
»Er suchte sich ein Dutzend Zöglinge in meiner Größe und in meinem Alter aus. Er ließ sie fesseln und bearbeitete sie mit einem Meißel, den er genau nach den Maßen meiner Kopfverletzung hatte anfertigen lassen. Er platzierte ihn an der gleichen Stelle und bohrte ihn mit Hammerschlägen, mal stärker, mal schwächer, in die Schädel.«
Eine Weile lang sagte niemand etwas.
»Was geschah dann?«, fragte Vipond leise.
»Was dann geschah? Nun, die Hälfte der Zöglinge starb ziemlich rasch, und die übrigen, die waren danach nicht mehr sie selbst. Später hat man sie dann nicht mehr gesehen.«
»Man hat sie irgendwo verschwinden lassen?«
»Sozusagen.«
»Und dann?«
»Bosco hat meine Ausbildung selbst in die Hand genommen. Das hatte er noch nie zuvor getan. Zeitweise hatte er mich zehn Stunden am Tag in der Mangel und verpasste mir noch eine Tracht Prügel, wenn ich Fehler machte. Anschließend korrigierte er mich. Dann verschwand er für ein halbes Jahr und kehrte mit sieben Erlösermönchen zurück, die er für die besten in ihrer Disziplin hielt.«
»Und worin bestand die?«
»Im Töten von Menschen. Menschen mit Rüstung, ohne Rüstung, mit Schwertern, Knüppeln, mit bloßen Händen. Wie man eine möglichst große Zahl umbringt...« Cale sprach nicht weiter.
»Du meinst eine große Zahl von Gefangenen?«
»Nicht nur Gefangene – Menschen beliebiger Art. Zwei der Mönche waren Generäle, der eine für taktische Fragen – Schlachtaufstellungen, Rückzüge, großräumige Truppenbewegungen. Der andere beschäftigte sich mit Partisanenkampf – kleine Kampfgruppen, die in feindlichem Territorium operieren und die Einheimischen mit Terrormaßnahmen zwingen, für die Mönche zu arbeiten.«
»Und wofür das alles?«
»Oh, ich war nicht so töricht, danach zu fragen.«
»Hatte es mit dem Krieg an der Ostfront zu tun?«
»Wie gesagt, ich habe niemals danach gefragt.«
»Aber du musstest dir doch eine Meinung gebildet haben.«
»Eine Meinung? Ja, dass es etwas mit dem Krieg im Osten zu tun hatte.«
Vipond sah Cale lange forschend an. Cale starrte kalt zurück. Plötzlich schien der Kanzler einen Entschluss gefasst zu haben. Er wandte sich an Albin.
»Bringt die anderen beiden unverzüglich in mein Haus.«
Albin gab dem Kerkermeister ein Zeichen, dann verließen beide die Zelle.
Cale setzte sich auf seine Pritsche und IdrisPukke trat an die Gitterstäbe.
»Ein spannendes Leben«, sagte er zu Cale. »Du solltest ein Buch darüber schreiben.«
SECHZEHNTES KAPITEL
N achdem Lord Vipond mit Vague Henri und Kleist gesprochen hatte, begab er sich in den Palast des Marschalls Materazzi, des Dogen von Memphis.
Der Doge scharte viele Berater um sich, weil er gern ausgiebig mit anderen über die Staatsangelegenheiten sprach. Dass er dann selten deren Rat befolgte, gehörte wohl zu den Eigenwilligkeiten, die alle Männer entwickeln, die in hohe Machtpositionen hineingeboren werden. Von dieser Eigenwilligkeit nahm er nur eine Person aus: Lord Vipond, der dank einem weit gespannten Netz von Spionen und seinem ausgeprägten Gespür für das Richtige ebenfalls über große Macht verfügte. Wie es in einem volkstümlichen Vers hieß:
»Der Kanzler Vipond sät und erntet wie ein Bauer
des Reiches Wissen, keiner weiß es genauer.«
Der Vers mochte holprig klingen, war jedoch nicht weit von der Wahrheit entfernt. Marschall Materazzi verfügte über beträchtliche Rücksichtslosigkeit, die ihn an die Spitze des größten Reiches der Weltgeschichte gebracht hatte. Dass er sich dort seit zwanzig Jahren unangefochten hielt, verdankte er großer soldatischer Kühnheit, politischem Geschick und hoher Intelligenz. Da er die ganze Zeit über Vipond als Kanzler an seiner Seite hatte, fragte er sich bisweilen, wie es Vipond gelungen war, fast genauso mächtig wie er zu werden. Im dritten Jahr seiner Regierung hatte er entsetzt festgestellt, dass Vipond für ihn unersetzlich geworden war. Zunächst erfüllte ihn das mit Hass auf Vipond – so etwas konnte er nicht hinnehmen, machte es ihn doch zum Ziel für Anschläge oder, schlimmer noch, zur Marionette. Doch Vipond sagte ihm ganz offen, er werde immer sein ergebener Diener bleiben, solange er, Materazzi,
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