Die linke Hand Gottes
Neununddreißig-Gänge-Banketten regelmäßige Besuche im Bilematorium oder Spucksaal vorsahen. Dies war nach jedem zehnten Gang auch notwendig, wollte man die Gastgeber nicht damit beleidigen, schon vor dem neununddreißigsten Gang das Handtuch zu werfen. Cale spie alles aus, was er in den letzten zwanzig Minuten gegessen hatte – und nach IdrisPukkes Eindruck sogar noch vieles, was er in seinem ganzen Leben zu sich genommen hatte.
Völlig erschöpft schleppte sich der jugendliche Prasser schließlich ins Bett. Am folgenden Morgen erschien Cale mit einer grünlichen Gesichtsfarbe, die IdrisPukke sonst nur an drei Tage alten Leichen gesehen hatte. Cale setzte sich an den Tisch und nippte vorsichtig an einer Tasse Tee ohne Milch. Mit matter Stimme erklärte er seinem Gourmetkoch, weshalb ihm so schrecklich übel geworden war.
»So ist das also«, sagte IdrisPukke, nachdem Cale ihn über die Kochkünste der Erlösermönche aufgeklärt hatte. »Wenn ich je schlecht von dir denken sollte, muss ich dich wohl damit entschuldigen, dass von einem Jungen, der mit Eingeschlafenen Füßen großgezogen wurde, nichts Gutes erwartet werden kann.« Er schwieg eine Weile. »Wenn ich dir einen Ratschlag gebe, würdest du es mir übel nehmen?«
»Nein, nein«, sagte Cale, zu schwach, um sich zu wehren.
»Man darf den Menschen nicht zu viel zumuten. Sollte in Gesellschaft das Thema Essen angeschnitten werden, rate ich dir, die Ratten nicht zu erwähnen.«
NEUNZEHNTES KAPITEL
V ague Henri und Kleist hatten Cale vor seiner eiligen Abreise nur kurz gesehen, daher war ihnen kaum Zeit geblieben, über das verdächtige Wiederauftauchen IdrisPukkes zu sprechen, geschweige denn, dass sie eine hinreichende Aufklärung über alles erhalten hätten, was nach Cales Abgang aus dem Innenhof der Festung geschehen war. Kleist kam gar nicht dazu, Cale dessen Selbstherrlichkeit und fehlende Disziplin vorzuwerfen, mit der er ihn und Henri schön in die Scheiße geritten habe. Doch dann stellte sich heraus, dass Kleists Furcht, Cale könnte die Feindseligkeit der ganzen Umwelt auf sie herabbeschworen haben, gar nicht zutraf. Gewiss, man war ihnen nicht freundlich gesinnt, aber durch die derbe Niederlage, die Cale der Blüte der Materazzi-Jugend beigebracht hatte, waren diese bei ihrem Durst nach Vergeltung doch sehr vorsichtig für den Fall, dass Henri und Kleist ebenso hervorragende Kämpfer wären. Die Aristokraten fürchteten weder Verwundung noch Tod, dafür aber umso mehr die Demütigung, von sozial niedrigstehenden Gegnern vorgeführt zu werden.
Vipond hatte die beiden Freunde dem Küchendienst zugeteilt, weil dort nicht die Gefahr bestand, Höherstehenden zu begegnen. Man kann sich unschwer vorstellen, wie heftig Kleist über Cale schimpfte und fluchte, weil sie seinetwegen nun zehn Stunden am Tag schmutziges Geschirr abwaschen mussten. Die Arbeit brachte jedoch den ungeahnten Vorteil, dass alle Bediensteten mit Groll auf die Eitelkeit und Hochnäsigkeit der Materazzi-Elite die beiden Freunde mit echter Bewunderung betrachteten. So kam es, dass sie nach einem Monat bei interessanteren Arbeiten mithelfen durften. Kleist schickte man in die Fleischabteilung, wo er seine Fähigkeiten als Schlachter zeigen konnte. Ein geborener Schlachter. Er war klug genug, nicht von den kleinen Nagern zu erzählen, an denen er sein Handwerk gelernt hatte. Beim Zerlegen eines mächtigen Holsteinerrindes sagte er freudig zu Vague Henri: »Ich arbeite gern im großen Maßstab.«
Vague Henri musste damit vorliebnehmen, die Haustiere zu füttern und gelegentlich Mitteilungen zu den Gesindestuben der angrenzenden Stadtpaläste zu bringen. Doch das gab ihm Gelegenheit, Riba zu sehen, die ihm nicht mehr aus dem Sinn ging. Zwar traf er sie immer nur kurz, aber jedes Mal strahlte sie vor Freude. Sie sprach lebhaft mit ihm, berührte ihn am Arm und lächelte über das ganze Gesicht, wobei er ihre makellosen weißen Zähne bewunderte. Allerdings stellte er bald fest, dass sie dieses Lächeln auch fast allen anderen schenkte. Es lag in ihrem Wesen, zu ihren Mitmenschen offen und liebenswürdig zu sein, und diese wunderten sich, wie sie in den Genuss von so viel Liebenswürdigkeit kamen. Henri hätte aber am liebsten dieses Lächeln nur für sich gehabt.
Seit er fast fünf Tage lang mit ihr allein in den Scablands verbracht hatte, hegte er ein dunkles Geheimnis um Riba. Anfangs war er ihr mit großer Ehrfurcht begegnet, so als wäre er mit einem Engel unterwegs. Männer
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