Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
der Uni hatte sie zwar Englisch studiert, aber im Nebenfach BWL , hauptsächlich weil ihr Vater ein guter Geschäftsmann gewesen war und sie in seine Fußstapfen treten wollte. Na ja, was sie wirklich wollte, war, eine große Dichterin werden, aber weil sie lieber Gedichte las, als sie selbst zu schreiben – und sie außerdem in der Lage sein wollte, ihre Rechnungen zu bezahlen und auch mal etwas anderes als japanische Nudeln zu essen –, war ihr klar, dass sie einen etwas realistischeren Plan B brauchte. Als sie bei der Scuppernong Brauerei anfing, ahnte sie gar nicht, dass sie wie ihr Vater ein hervorragendes Händchen fürs Geschäft hatte. Als leidenschaftliche Biertrinkerin war sie schon immer ehrlich begeistert von Scuppernongs leckerem Gebrauten, also fiel es ihr nicht schwer, ihren Enthusiasmus für das Produkt – zusammen mit ihrem offenbar angeborenen Geschäftssinn – einzubringen und große Mengen des Biers an ihre Kunden zu verkaufen. Die entspannte Atmosphäre im Firmenhauptsitz der beliebten Brauerei entsprach Claras lockerer Art, und sie kam auf allen Ebenen gut mit ihren Kollegen zurecht. Sie mochte ihre Arbeit und war darin erfolgreich, also dauerte es nicht lange, bis ihr klar wurde, dass sie ihre Berufung gefunden hatte, und fast ebenso schnell beschloss sie, einmal Geschäftsführerin der Firma zu werden. Ihre Beförderung brachte sie einen Schritt näher an ihr ehrgeiziges Ziel. Aber der Termin mit der Personalabteilung, den der Bierkönig für sie angesetzt hatte, wurde abgesagt, als Sebastian starb. Und die bedeutende Beförderung bekam schließlich auch ein anderer, was Clara jedoch gar nicht mitbekam, bis Mr. Franklin sie darauf aufmerksam machte.
Leo seufzte und fuhr sich mit den Fingern durchs dichte braune Haar, an dessen Schläfen sich langsam ein Hauch von Grau abzeichnete. »Tja, das klingt wirklich so, als würdest du arbeitstechnisch auf wackeligen Beinen stehen«, sagte er stirnrunzelnd. »Und es sieht auch so aus, als hätte sich der Bierkönig wirklich ernsthafte Sorgen um dich gemacht.« Er schwieg einen Moment, kaute auf seiner Unterlippe herum und schien zu überlegen, ob er weiterreden sollte oder nicht. »Um ehrlich zu sein … und ich spreche das wirklich ungern an …«, er seufzte, »… aber nachdem ich diese Geschichte gehört habe und vor dem Hintergrund, dass du in letzter Zeit so deprimiert warst: Er ist nicht der Einzige.«
Clara zeigte auf das letzte Eckchen Käsetoast auf seinem Teller. »Isst du das noch?«, fragte sie tonlos und vermied es, ihm in die Augen zu schauen.
»Nur zu.« Leo schob ihr den Teller über den Tisch hin. Er sah Clara eindringlich an. Ein langer, drückender Moment des Schweigens breitete sich aus, bevor er schließlich sagte: »Ich finde, wir sollten darüber reden.«
»Worüber reden?«, stellte sie sich dumm.
Leo neigte den Kopf. »Ach, komm schon. Du weißt doch genau, wie es dir in den letzten Monaten ergangen ist. Dass du dich komplett zurückgezogen hast vom Leben .«
»Bitte, hör auf. Ich bin okay.« Clara versuchte, überzeugend zu klingen.
»Du bist weit davon entfernt, okay zu sein, und das wissen wir beide«, hielt Leo dagegen. »Ich erkenne dich kaum wieder.«
»Werd nicht melodramatisch.«
»Werd ich gar nicht«, protestierte Leo. »Die Wahrheit ist, ich mache mir nicht bloß Sorgen um dich, Clara«, er schluckte mühsam. »Ich hab Angst um dich.«
»Angst?«, sagte sie in distanziertem Ton.
»Nicht mal deine Stimme klingt noch nach dir. Und du verhältst dich auch ganz offensichtlich nicht mehr wie du selbst. Du verhältst dich wie … naja, seltsam .« Leos Faust landete auf dem Tisch. »Hörst du mir überhaupt zu?«
Tatsächlich hatte Clara, die auch jetzt abwesend auf ihren Schoß starrte, es sich so sehr angewöhnt, alles um sich herum auszublenden, dass es zu einer unbewussten Gewohnheit geworden war. »Was? Ja. Natürlich.«
Leos Mundwinkel zogen sich missmutig nach unten. »Weißt du was? Du bist wirklich wie ein Zombie.«
Clara verzog schmerzvoll das Gesicht. Sie mochte sich zwar in einem betäubenden Nebel bewegen, aber so schlimm war es auch wieder nicht. Oder?
»Es tut mir leid.« Leo langte über den Tisch und legte ihr die Hand auf den Arm. »Aber wenn nicht mal ich dir so was sagen kann, wer dann?« Er wartete auf eine Antwort von Clara. Aber sie sagte nichts. »Ich hab mir so lange auf die Zunge gebissen, wie ich konnte. Ich habe gebetet, dass es besser wird, aber es wird nur immer schlimmer.
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