Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
den Grund für ihre Bitte erklärte, hatte ihr Miss Jordain sanft die Hand auf die Schulter gelegt und versucht, sie davon zu überzeugen, dass absolut kein Zusammenhang bestand zwischen dem Todeszeitpunkt ihres Vaters und dem ihren, aber Claras Überzeugung stand unerschütterlich fest, und als es in ihrem kleinen Kopf zu rattern begann, befürchtete sie schließlich sogar das Schlimmste für ihre Lehrerin und fragte schluckend: »Warum? Sind Sie schon fünfunddreißig?«
»Also gut«, hatte Miss Jordain, die bereits siebenundvierzig war, zu Clara gesagt und sie angelächelt, »ich freue mich, wenn ich nächste Woche deine Zeitkapsel bekomme.« Dann war sie weiter den schmalen Gang zwischen den Pulten entlanggegangen.
»Das ist ja furchtbar!« Leo spuckte beinahe seinen Wein aus, als seine Schwester ihnen diese Geschichte erzählte. »Warum habe ich davon nicht schon früher erfahren? Ich hätte dir den Kopf zurechtgerückt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du wirklich geglaubt hast, das Leben wäre mit fünfunddreißig zu Ende. Meine Güte, das ist ja schrecklich.«
»Nicht so schrecklich, wie von Miss Jordain von der Schule aus angerufen zu werden, die mir ans Herz legt, ich solle doch einmal mit meiner Tochter ›mit der lebhaften Fantasie‹ über den Tod sprechen.« Libby sah Clara an und streckte die Hand aus. »Okay, du kleine Schwarzmalerin, dann lass uns deine Liste mal anschauen.«
Aber Clara war bereits zu vertieft in die Liste, als dass sie die Aufforderung ihrer Mutter gehört hätte. Diese Liste, die sie im zarten Alter von zehn Jahren geschrieben hatte, lange bevor die Realität den Zauber der Kindheit aufhob, der sie hatte glauben lassen, dass alles möglich war.
4
Clara wälzte sich seit zwei Stunden unter dem Blick von Patrick Swayze schlaflos im Bett, als der köstliche Duft von überbackenem Käsetoast die Treppe herauf, durch den Gang und unter ihrer Zimmertür hindurch wehte. Dies war einer der Vorteile, ihren Bruder um sich zu haben. Clara war froh, dass Leo beschlossen hatte, einen Koffer zu packen und, während sie hier war, bei Libby zu wohnen statt in seiner Junggesellenbude in der Stadt. Libby hätte gar nicht erfreuter sein können, ihre beiden Kinder über die Feiertage zu Hause zu haben. Clara warf ihre Decke zur Seite, schnappte sich ihren Lieblingspulli mit dem Harvard-Aufdruck, der einmal Sebastian gehört hatte, und ging schnurstracks in die Küche.
»Hey? Warum bist du denn wach?« Leo stand am Herd und winkte mit dem Pfannenheber in ihre Richtung.
Clara zuckte mit den Schultern und sog den Essensduft ein. »Ich schlafe in letzter Zeit nicht so gut. Und nach deinen Toasts gelüstet es mich schon seit Monaten.«
»Alles klar. Willst du ihn mit oder ohne?«
»Mit, bitte«, sagte Clara gähnend und setzte sich auf ihren Platz am Küchentisch.
»Sehr wohl! Ein Mitternachtstoast mit Käse überbacken und mit Avocado, kommt sofort.«
Wieder einmal rang sich Clara ein gequältes Lächeln ab, das wohl eher so aussah, als müsste sie dringend aufs Klo. Sie hatte keine Ahnung, was Leos Geheimrezept war – es könnte das perfekte Verhältnis von Münster und amerikanischem Käse sein –, aber sein überbackener Käsetoast war einfach der beste, den sie je gegessen hatte, und offenbar unmöglich zu kopieren. Zumindest hatte sie den Versuch schon längst aufgegeben.
Als ihr Mitternachtssnack fertig war, setzte sich Leo zu Clara an den Tisch. Sie war dankbar, ihren Bruder jetzt für sich allein zu haben. Es erinnerte sie an die guten alten Zeiten. Über die Jahre hatten sie bestimmt hunderte Stunden mitten in der Nacht zusammen an diesem Küchentisch gesessen, während normale Leute tief und fest schlummerten, und über Gott und die Welt geredet. Manchmal hatten sie aber auch einfach nur schweigend dagesessen und kein Wort gesagt, die Nase in ein Buch oder eine Zeitschrift vergraben, und sich einfach an der Gesellschaft des anderen gewärmt. Das waren die kostbaren Stunden, die Clara am meisten vermisste, wenn sie in Boston war, die Stunden, in denen sie ihre Masken abnahmen und die Clara daran erinnerten, dass sie, ganz gleich wie einsam sie sich manchmal fühlte, nie allein war. Genauso wenig wie ihr Bruder.
Während sie aßen, griff Leo nach der Zeitkapsel, die auf dem Tisch liegen geblieben war, als sich alle zum Schlafen in ihre Zimmer zurückgezogen hatten. »Ich wünschte, ich hätte in der Schule auch so eine gemacht.« Er beäugte die Kapsel neidisch. »Unglaublich, dass
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